Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
lebendige Frau bin, die der Liebe bedarf. Sie wissen nicht, wie er mich auf Schritt und Tritt gekränkt hat und dabei doch der selbstzufriedene Mann geblieben ist, der er war. Habe ich mich nicht bemüht, mit aller Kraft bemüht, meinem Leben einen würdigen Inhalt zu geben? Habe ich nicht versucht, ihn zu lieben und, als ich meinen Mann nicht mehr lieben konnte, meinen Sohn zu lieben? Aber dann kam schließlich der Zeitpunkt, wo ich einsah, daß ich mich nicht mehr selbst betrügen konnte und daß ich ein lebendes Wesen bin und nichts dafür kann, wenn Gott mich so geschaffen hat, daß es mir ein Bedürfnis ist zu lieben und zu leben. Und was tut dieser Mensch jetzt? Wenn er mich tötete, wenn er ihn tötete – ich würde alles ertragen, alles verzeihen; aber nein, er ...
Wie ist es nur möglich, daß ich nicht gleich erraten habe, was er tun werde? Er tut eben das, was seinem niedrigen Charakter gemäß ist. Er bleibt der recht Handelnde; aber mich, die ich ins Elend geraten bin, stößt er noch schlimmer, noch tiefer ins Verderben hinein ...‹ »Sie werden sich selbst sagen können, was Sie und Ihren Sohn erwartet«, an diese Worte seines Briefes mußte sie denken. ›Das ist eine Drohung, mir den Sohn wegzunehmen, und wahrscheinlich ist das nach ihrem törichten Gesetze möglich. Aber weiß ich denn etwa nicht, warum er das sagt? Er glaubt zwar nicht an meine Liebe zu meinem Sohne, oder er verachtet dieses mein Gefühl, wie er ja auch immer darüber gespottet hat; aber er weiß, daß ich auf meinen Sohn nicht verzichten werde, nicht auf ihn verzichten kann, daß es ohne meinen Sohn für mich kein Leben gibt, selbst nicht mit dem Manne, den ich liebe, daß, wenn ich auf meinen Sohn verzichtete und von ihm selbst wegliefe, ich wie das schändlichste, abscheulichste Weib handeln würde; das weiß er, und er weiß, daß ich nicht imstande bin, das zu tun‹.
Es fiel ihr ein anderer Satz aus dem Briefe ein: »Unser Leben muß auch in Zukunft denselben Gang nehmen, den es bisher genommen hat.« ›Ja‹, sagte sie sich, ›dieses Leben war schon früher eine Qual und war in der letzten Zeit geradezu furchtbar geworden. Wie wird es nun jetzt erst sein? Und er weiß das alles; er weiß, daß ich lieben muß, so wie ich atmen muß, und daß ich das eine sowenig wie das andere bereuen kann; er weiß, daß weiter nichts dabei herauskommt als Lüge und Täuschung; aber er möchte mich immer weiter quälen. Ich kenne ihn; ich weiß, daß, wie für den Fisch das Wasser, so für ihn die Lüge das Element ist, in dem er schwimmt und sich wohlfühlt. Aber nein, ich werde ihm diesen Genuß nicht ermöglichen; ich werde dieses Lügennetz zerreißen, in das er mich verstricken möchte; mag daraus kommen, was da will! Alles ist besser als dieses stete Lügen und Betrügen.
Aber wie kann ich das machen? Mein Gott, mein Gott! Ist jemals eine Frau so unglücklich gewesen wie ich? ...‹
»Nein, ich zerreiße dieses Lügennetz, ich zerreiße es!« rief sie und sprang auf. Ihre Tränen zurückdrängend, ging sie zum Schreibtisch, um einen anderen Brief an ihn zu schreiben. Aber im tiefsten Grunde ihrer Seele fühlte sie schon, daß sie nicht die Kraft haben werde, etwas zu zerreißen, nicht die Kraft haben werde, aus der bisherigen Lage herauszukommen, wie lügnerisch und ehrlos diese auch sein mochte.
Sie setzte sich an den Schreibtisch; aber statt zu schreiben, verschränkte sie die Arme auf dem Tische, legte den Kopf darauf und weinte; sie weinte mit starkem Schluchzen und mit heftigen Bewegungen der ganzen Brust, so wie Kinder weinen. Sie weinte darüber, daß ihre Hoffnung auf eine Klärung und Neuordnung ihrer Lage für alle Zeit zerstört war. Sie wußte im voraus, daß nun alles beim alten bleiben, ja noch weit schlimmer sein werde als bisher. Sie fühlte, daß die Stellung, die sie in der Welt einnahm und die ihr noch an diesem Morgen so nichtig und wertlos erschienen war, doch für sie von Wert war und daß sie es nicht über sich gewinnen werde, sie mit der schmählichen Stellung einer Frau zu vertauschen, die ihren Mann und ihren Sohn verlassen und sich mit ihrem Liebhaber vereinigt hat, und daß sie, mochte sie sich auch noch so sehr anstrengen, doch niemals stärker sein werde, als sie nun eben von Natur war. Niemals würde sie in die Lage kommen, frei und offen lieben zu können; sie würde immer die verbrecherische Gattin bleiben, die, jeden Augenblick in Gefahr, entlarvt zu werden, ihren Mann
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