Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
gesetzlichen Bestimmungen nicht und weiß daher nicht, bei wem von den Eltern der Sohn bleiben muß; aber ich nehme ihn mit, weil ich ohne ihn nicht leben kann. Seien Sie großmütig und lassen Sie ihn mir!«
Bis dahin hatte sie schnell, und wie es ihr in die Feder kam, geschrieben; aber der Appell an seine Großmut, die sie bei ihm gar nicht für ein mögliches Gefühl hielt, und anderseits die Notwendigkeit, dem Briefe irgendeinen rührenden Schluß zu geben, brachten sie zum Stocken.
»Von meiner Schuld und meiner Reue kann ich nicht reden, weil ...«
Wieder hielt sie inne, da sie in ihren Gedanken keinen logischen Zusammenhang fand. ›Nein‹, sagte sie bei sich, ›so etwas darf ich nicht schreiben.‹ Sie zerriß den Brief, schrieb ihn noch einmal mit Weglassung der Stelle von der Großmut und siegelte ihn zu.
Einen zweiten Brief mußte sie an Wronski schreiben. »Ich habe meinem Manne mitgeteilt«, schrieb sie und saß dann lange da, ohne daß sie in sich die Kraft zum Weiterschreiben gefunden hätte. Das war so roh, so unweiblich. ›Und dann, was kann ich ihm denn eigentlich schreiben?‹ dachte sie. Wieder überzog Schamröte ihr Gesicht; sie mußte an sein ruhiges Wesen denken, und ein Gefühl des Ärgers über ihn veranlaßte sie, den Briefbogen mit dem angefangenen Satze in kleine Stücke zu zerreißen. ›Ich brauche ihm gar nichts zu schreiben‹, sagte sie sich; sie legte die Briefmappe zusammen, ging hinauf, teilte der Gouvernante und der Dienerschaft mit, daß sie heute nach Moskau fahren werde, und machte sich sofort daran, die Sachen zu packen.
16
I n allen Zimmern des Landhauses gingen Hausknechte, Gärtner und Diener umher und trugen Sachen hinaus. Die Schränke und die Kommoden waren geöffnet; zweimal war zum Kaufmann geschickt worden, um Stricke zum Packen zu holen; der Fußboden lag voll Zeitungspapier. Zwei Koffer, mehrere Säcke und zusammengebundene Reisedecken waren schon ins Vorzimmer getragen. Eine Kutsche und zwei Droschken hielten vor der Haustür. Anna, die über der Arbeit des Packens ihre innere Unruhe vergessen hatte, stand in ihrem Zimmer am Tische und packte ihre Reisetasche, als Annuschka sie auf das Geräusch eines herankommenden Wagens aufmerksam machte. Anna warf einen Blick aus dem Fenster und sah an der Haustür Alexei Alexandrowitschs Kurier, der dort die Klingel zog.
»Geh und sieh zu, was es gibt«, sagte sie; mit ruhiger Ergebung in alles, was da kommen konnte, setzte sie sich auf einen Sessel und legte die Hände über den Knien zusammen. Ein Diener brachte einen dicken Brief, dessen Anschrift Alexei Alexandrowitschs Handschrift aufwies.
»Der Kurier soll auf Antwort warten«, sagte er.
»Gut«, erwiderte sie und riß, sobald er hinausgegangen war, den Brief mit zitternden Fingern auf. Ein Päckchen Banknoten, die, ohne zusammengefaltet zu sein, mit einem Papierstreifen umklebt waren, fiel aus ihm heraus. Sie entfaltete den Brief und begann, vom Ende anfangend, ihn zu lesen. »Alle für Ihren Umzug erforderlichen Anordnungen werden getroffen werden«, las sie. »Ich bitte Sie, zu beachten, daß ich auf die Erfüllung dieser meiner Bitte besonderen Wert lege.« Sie überflog mit den Augen den vorhergehenden Abschnitt, las alles und las dann den ganzen Brief noch einmal von vorn. Als sie an das Ende gelangt war, fühlte sie, daß sie fror und daß ein so furchtbares Unglück über sie hereingebrochen war, wie sie es nicht erwartet hatte.
Sie hatte am Morgen bereut, es ihrem Manne gesagt zu haben, und nur den einen Wunsch gehabt, diese Worte möchten für so gut wie ungesagt angesehen werden. Und nun betrachtete dieser Brief die Worte als ungesagt und gewährte ihr das, was sie gewünscht hatte. Aber jetzt erschien ihr dieser Brief furchtbarer als alles, was sie sich nur hatte vorstellen können.
›Er hat recht, er hat recht!‹ sagte sie. ›Selbstverständlich, er hat immer recht, er ist ein Christ, er ist großmütig! Ja, ein niedrig denkender, garstiger Mensch ist er! Und das durchschaut niemand außer mir, und niemand außer mir wird es je durchschauen, und ich kann es niemandem klarmachen. Alle sagen sie: »So ein religiöser, moralischer, ehrenhafter, kluger Mann!« aber sie sehen nicht, was ich gesehen habe. Sie wissen nicht, daß er acht Jahre lang mein Leben erstickt hat, alles erstickt hat, was in meinem Innern lebendig war, daß ihm kein einziges Mal auch nur der Gedanke gekommen ist, daß ich eine
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