Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Augen zu sehen; sie wagte nicht, ihre Kammerjungfer zu rufen, und noch weniger, hinunterzugehen und ihrem Sohne und seiner Gouvernante gegenüberzutreten.
Die Kammerjungfer, die schon lange an der Tür gehorcht hatte, kam nun von selbst zu ihr ins Zimmer. Anna blickte ihr fragend in die Augen und errötete erschrocken. Die Kammerjungfer bat um Entschuldigung, daß sie hereingekommen sei; sie habe geglaubt, es sei geklingelt worden. Sie brachte ein Kleid und ein Briefchen. Das Briefchen war von Betsy. Betsy erinnerte sie daran, daß an diesem Vormittage Lisa Merkalowa und die Baronin Stoltz mit den beiden Verehrern jener, dem Fürsten Kaluschski und dem alten Stremow, sich zu einer Krocketpartie bei ihr zusammenfinden würden. »Kommen Sie wenigstens zum Zusehen, zum Zwecke des Studiums der Sittenlehre. Ich erwarte Sie«, schloß sie.
Anna las das Briefchen und seufzte schwer.
»Ich brauche weiter nichts«, sagte sie zu Annuschka, die damit beschäftigt war, die Fläschchen und Bürsten auf dem Toilettentische handlich zu ordnen. »Geh nur; ich werde mich gleich anziehen und hinunterkommen. Ich brauche nichts weiter.«
Annuschka ging hinaus; Anna aber kleidete sich nicht an, sondern blieb in derselben Haltung, mit gesenktem Kopfe und schlaff herabhängenden Armen, sitzen; ab und zu zuckte sie mit dem ganzen Körper zusammen, als ob sie eine Handbewegung machen, etwas sagen wollte; aber sofort versank sie auch wieder in denselben Zustand der Starrheit. Sie wiederholte unaufhörlich: ›Mein Gott! Mein Gott!‹ Aber weder das Wort Gott noch das Wort mein hatte für sie irgendwelchen Sinn. Der Gedanke, für ihre Lage Hilfe in der Religion zu suchen, war ihr, obgleich ihr nie Zweifel an der Religion gekommen waren, in der man sie erzogen hatte, doch genau ebenso fremd wie der, bei Alexei Alexandrowitsch selbst Hilfe zu suchen. Sie wußte im voraus, daß Hilfe durch die Religion für sie nur unter der Bedingung möglich sei, daß sie auf das verzichtete, was doch für sie den gesamten Lebensinhalt ausmachte. Es war ihr nicht nur schwer ums Herz, sondern sie begann sich auch vor diesem neuen Seelenzustande, den sie bisher noch nie kennengelernt hatte, zu fürchten. Sie hatte eine Empfindung, als ob sich in ihrer Seele alles verdoppele, so wie sich mitunter vor ermüdeten Augen die Gegenstände verdoppeln. Sie wußte zeitweilig nicht, was sie eigentlich fürchtete und was sie eigentlich wünschte. Ob sie das, was war, oder das, was die Zukunft bringen werde, fürchtete und wünschte und was sie denn nun eigentlich wünschte, das wußte sie nicht.
›Ach, was tue ich da!‹ sagte sie zu sich, als sie auf einmal einen Schmerz an beiden Seiten des Kopfes empfand. Nachdem sie ihre Gedanken gesammelt hatte, merkte sie, daß sie ihre Haare an den Schläfen mit beiden Händen gepackt hielt und zusammenzog. Sie sprang auf und ging im Zimmer hin und her.
»Der Kaffee ist fertig, und Mamsell und Sergei warten«, meldete Annuschka, die zurückkehrte und Anna noch nicht weiter angekleidet fand.
»Sergei? Was macht Sergei?« fragte Anna, auf ein mal lebhafter werdend; zum erstenmal an diesem ganzen Morgen erinnerte sie sich an das Dasein ihres Sohnes.
»Er hat etwas begangen, glaube ich«, antwortete Annuschka lächelnd.
»Was heißt das: ›er hat etwas begangen‹?«
»Im Eckzimmer hatten Sie eine Schale mit Pfirsichen stehen; davon hat er einen heimlich gegessen, glaube ich.«
Durch den Gedanken an ihren Sohn wurde Anna auf einmal aus der Verzweiflung herausgerissen, in der sie sich über ihre Lage befand. Sie gedachte der zum Teil aufrichtigen, wenn auch stark übertriebenen Rolle der nur für ihren Sohn lebenden Mutter, die sie in den letzten Jahren durchgeführt hatte, und wurde sich mit Freude bewußt, daß sie trotz ihrer üblen Lage doch ein Gebiet hatte, das von ihrem Verhältnisse zu ihrem Manne und zu Wronski unabhängig war. Dieses Gebiet war ihr Sohn. Wie sich ihre eigene Lage auch gestalten mochte, ihren Sohn konnte sie nicht verlassen. Mochte ihr Mann sie auch der Schande preisgeben und verstoßen, mochte auch Wronski gegen sie kalt werden und sein unabhängiges Leben fortsetzen (wieder war die Erinnerung an ihn mit Vorwürfen und mit Bitterkeit verbunden), von ihrem Sohne konnte sie sich nicht lossagen. Sie hatte einen Lebenszweck, und sie mußte handeln, handeln, um dieses Verhältnis zu ihrem Sohne zu sichern, damit man ihn ihr nicht nehmen könne. Sie mußte sogar
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