Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
als sie nichts unternehmen, nicht mit Wronski zusammenkommen konnte, sondern sich hier in einer fremden, zu ihrer Gemütsverfassung so wenig stimmenden Gesellschaft bewegen mußte; aber sie war in einem Kleide, das, wie sie wußte, ihr gut stand; sie war nicht allein, sondern fand sich mitten in diesem gewohnten prunkenden Getriebe des Müßigganges: und deshalb war ihr leichter zumute als zu Hause. Sie brauchte hier nicht darüber nachzudenken, was sie tun müsse. Alles machte sich ganz von selbst. Als Betsy ihr in einem weißen Kleide entgegenkam, von dessen vornehmem Geschmack sie überrascht war, lächelte ihr Anna zu wie immer. Begleitet wurde die Fürstin Twerskaja von Tuschkewitsch und einer mit ihr verwandten jungen Dame, die zur höchsten Glückseligkeit ihrer in der Provinz lebenden Eltern den Sommer bei der berühmten Fürstin verleben durfte.
Anna mußte wohl irgend etwas Besonderes in ihrem Wesen haben, da Betsy es sogleich bemerkte.
»Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete Anna auf Betsys Frage und blickte nach dem Diener, der auf die Herrschaften zukam und, wie sie vermutete, Wronskis Brief brachte.
»Wie freue ich mich, daß Sie gekommen sind«, sagte Betsy. »Ich fühle mich so müde und wollte eben eine Tasse Tee trinken, bevor meine Gäste kommen. Sie könnten ja«, wandte sie sich zu Tuschkewitsch, »inzwischen mit Mascha hingehen und den croquetground 2 probieren, da, wo der Rasen geschoren ist. Und wir beide haben noch Zeit, nach Herzenslust ein bißchen beim Tee zu plaudern, we'll have a cosy chat, 3 nicht wahr?« wandte sie sich lächelnd zu Anna und drückte ihr die Hand, in der diese den Sonnenschirm hielt.
»Um so mehr, da ich nicht lange bei Ihnen bleiben kann; ich muß unbedingt noch zu der alten Wrede; ich habe es ihr schon seit hundert Jahren versprochen«, erwiderte Anna, der das Lügen, wiewohl ihrem eigentlichen Wesen fremd, im gesellschaftlichen Verkehr nicht nur geläufig und natürlich geworden war, sondern sogar einen gewissen Genuß bereitete. Warum sie das sagte, woran sie doch eine Sekunde vorher noch nicht gedacht gehabt hatte, das hätte sie nicht erklären können. Sie hatte dabei nur den Gedanken gehabt: da Wronski nicht hierherkommen werde, so müsse sie sich Freiheit bewahren und den Versuch machen, ihn sonst irgendwie zu treffen. Aber warum sie gerade das alte Hoffräulein Wrede genannt hatte, bei der ein Besuch gleich dringlich oder gleich wenig dringlich war wie bei vielen anderen, dafür hätte sie keine Erklärung zu geben gewußt. Und doch hätte sie, wie sich später herausstellte, und wenn sie auch nach den schlausten Mitteln zu einer Zusammenkunft mit Wronski gesucht hätte, kein besseres ersinnen können.
»Nein, unter keinen Umständen lasse ich Sie fort«, antwortete Betsy und blickte ihr dabei forschend ins Gesicht. »Wirklich, wenn ich Sie nicht so lieb hätte, würde ich es Ihnen übelnehmen, daß Sie fort wollen. Das sieht ja gerade aus, als ob Sie fürchteten, durch die Gesellschaft, die Sie bei mir finden, bloßgestellt zu werden. Bitte, den Tee für uns in den kleinen Salon!« sagte sie zu dem Diener und kniff dabei die Augen zusammen, wie sie das im Verkehr mit der Dienerschaft stets tat.
Sie nahm ihm den Brief ab und las ihn durch.
»Da spielt uns Alexei einen Streich«, sagte sie auf französisch. »Er schreibt, er könne nicht kommen«, fügte sie in so natürlichem, harmlosem Tone hinzu, als könnte es ihr überhaupt nie in den Sinn kommen zu glauben, daß Anna, abgesehen vom Krocketspiel, an Wronski irgendwelches Interesse nähme. Anna wußte, daß Betsy vollständig unterrichtet war; aber wenn sie hörte, in welcher Weise Betsy in ihrer Gegenwart über Wronski sprach, so bildete sie sich immer einen Augenblick ein, daß jene nichts wisse.
»Ah!« machte Anna gleichgültig, als ob sie das wenig interessiere, und fuhr dann lächelnd fort: »Wie kann die Gesellschaft, die man bei Ihnen findet, jemanden bloßstellen!«
Dieses Spiel mit Worten, dieses Verbergen eines Geheimnisses hatte, wie für alle Frauen, so auch für Anna einen großen Reiz. Und das Reizvolle lag dabei nicht in irgendwelcher Notwendigkeit, etwas zu verstecken, auch nicht in irgendwelchem Zwecke, der mit dem Verstecken verfolgt worden wäre, sondern in der Handlung des Versteckens selbst.
»Wozu sollte ich katholischer sein als der Papst?« antwortete Betsy. »Stremow und Lisa Merkalowa, die sind ja die crème de la crème in
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