Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
schnell handeln, so schnell wie nur irgend möglich, ehe man ihn ihr noch genommen hatte. Sie mußte ihren Sohn nehmen und mit ihm wegreisen. Das war das einzige, was sie jetzt tun konnte und mußte. Sie mußte zur Ruhe gelangen und aus dieser qualvollen Lage herauskommen. Der Gedanke an ein eigenes Handeln, das ihren Sohn betraf, und an die sofortige Abreise mit ihm nach einem noch unbestimmten Ziele verlieh ihr diese notwendige Ruhe.
Sie kleidete sich schnell an, ging hinunter und trat mit festem Schritt in das Wohnzimmer, wo wie gewöhnlich der Kaffee und Sergei mit seiner Gouvernante auf sie warteten. Sergei, in weißem Anzuge, stand an einem Tische unter dem Spiegel, den Rücken und den Kopf herabbeugend; mit dem Ausdrucke gespannter Aufmerksamkeit, den sie an ihm kannte und der ihn seinem Vater ähnlich machte, nahm er mit den Blumen, die er mitgebracht hatte, irgend etwas vor.
Die Gouvernante machte eine besonders strenge Miene. Sergei rief überlaut, wie er das öfters tat: »Ah, Mama!« und blieb unschlüssig stehen: sollte er die Blumen hinlegen und zu seiner Mutter gehen, um sie zu begrüßen, oder sollte er erst den Kranz fertigmachen und dann mit diesem zu ihr gehen.
Die Gouvernante begann nach der Begrüßung langsam und ausführlich das Vergehen zu berichten, das Sergei begangen hatte; aber Anna hörte ihr nicht zu; sie überlegte unterdessen, ob sie die Gouvernante mitnehmen solle. ›Nein, ich will sie nicht mitnehmen‹, war das Ergebnis ihrer Überlegung. ›Ich will mit meinem Sohn allein reisen.‹
»Ja, das war sehr unartig«, sagte Anna, faßte ihren Sohn an der Schulter, sah ihn nicht mit einem strengen, sondern vielmehr mit einem schüchternen Blicke an, der den Knaben in Verlegenheit setzte und erfreute, und küßte ihn. »Lassen Sie ihn nur bei mir!« sagte sie zu der verwunderten Gouvernante und setzte sich, ohne die Hand ihres Sohnes loszulassen, an den Kaffeetisch, auf dem alles bereit war.
»Mama, ich ... ich wollte nicht ...«, sagte er und versuchte aus ihrem Gesichtsausdruck zu erraten, was seiner für den Pfirsich warte.
»Sergei«, sagte sie, sobald die Gouvernante das Zimmer verlassen hatte, »das war unartig; aber du wirst es nicht wieder tun, nicht wahr? ... Du hast mich doch lieb?«
Sie fühlte, daß ihr die Tränen in die Augen traten. ›Ist es denn denkbar, daß ich ihn jemals nicht mehr lieben sollte?‹ sagte sie zu sich selbst, während sie in seine erschrockenen und zugleich freudig aufleuchtenden Augen tief hineinschaute. ›Sollte er wirklich je mit seinem Vater eines Sinnes darin werden, über mich den Stab zu brechen? Wird er wirklich mit mir kein Mitleid haben?‹ Die Tränen liefen ihr schon über das Gesicht, und um sie zu verbergen, stand sie plötzlich auf und eilte, fast laufend, auf die Terrasse hinaus.
Nach dem Gewitterregen der letzten Tage war kühles, klares Wetter eingetreten. Trotz des hellen Sonnenscheins, der durch das vom Regen blank gewaschene Laubwerk der Bäume drang, war es in der Luft kalt.
Sie schauderte zusammen, sowohl vor Kälte wie auch infolge der inneren Angst, die sie in der reinen Luft mit neuer Kraft überfiel.
»Geh zu Mariette, geh!« sagte sie zu Sergei, der hinter ihr her herausgekommen war, und begann auf der Strohmatte, die auf der Terrasse lag, auf und ab zu gehen. ›Werden die Menschen mir denn wirklich nicht verzeihen und nicht verstehen, daß das alles so kommen mußte, mußte?‹ fragte sie sich selbst.
Sie blieb stehen und blickte nach den im Winde schwankenden Wipfeln der Eichen mit den reingewaschenen, im kalten Sonnenschein glänzenden Blättern, und sie war überzeugt, daß die Menschen ihr nicht verzeihen würden, daß alles und alle jetzt gegen sie ebenso erbarmungslos sein würden wie dieser Himmel und wie dieses Grün. Und wieder hatte sie die Empfindung, daß sich in ihrer Seele etwas zu verdoppeln anfange. ›Nur nicht denken, nur nicht denken!‹ sagte sie bei sich. ›Ich muß mich zur Reise fertigmachen. Wohin soll ich reisen? Wann? Wen soll ich mitnehmen? Ja, ich will nach Moskau fahren, mit dem Abendzug. Annuschka und Sergei will ich mitnehmen, und nur die notwendigsten Sachen. Aber vorher muß ich an beide schreiben.‹ Schnell ging sie ins Haus, in ihr Zimmer, setzte sich an den Tisch und schrieb an ihren Mann:
»Nach dem, was vorgefallen ist, kann ich nicht länger in Ihrem Hause bleiben. Ich reise ab und nehme meinen Sohn mit. Ich kenne die
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