Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
betrog, um in einer schmählichen Beziehung mit einem fremden, durch nichts gebundenen Mann zu stehen, mit dem sie niemals ein gemeinsames Leben führen konnte. Sie wußte, daß es so kommen werde, und zugleich war es ihr so entsetzlich, daß sie sich gar keine Vorstellung davon zu machen vermochte, wie das Ende sein werde. Und sie weinte, ohne einen Versuch, sich zu beherrschen, so wie bestrafte Kinder weinen.
Sie vernahm die Schritte des herbeikommenden Dieners und zwang sich zu ruhigerer Haltung. Indem sie ihm ihr Gesicht verbarg, stellte sie sich, als ob sie schriebe.
»Der Kurier bittet um Antwort«, meldete der Diener.
»Antwort? Jawohl«, antwortete Anna. »Er soll noch warten. Ich werde klingeln.«
›Was kann ich schreiben?‹ dachte sie. ›Welchen Entschluß kann ich so allein fassen? Was weiß ich? Was will ich? Was möchte ich?‹ Und wieder hatte sie die Empfindung, als ob sich in ihrer Seele etwas verdoppele. Sie erschrak wieder vor diesem Gefühle und griff begierig nach dem ersten sich darbietenden Anlasse, etwas zu tun, in der Absicht, sich von den Gedanken über sich und ihr Schicksal abzulenken. ›Ich muß Alexei sehen (so nannte sie in Gedanken Wronski); er allein kann mir sagen, was ich tun soll. Ich will zu Betsy fahren; vielleicht treffe ich ihn dort‹, sagte sie zu sich, vergaß aber dabei vollständig, daß sie ihm noch tags zuvor gesagt hatte, sie werde nicht zur Fürstin Twerskaja fahren, und er darauf erwidert hatte, daß er dann auch nicht hinkommen werde. Sie trat an den Tisch und schrieb ihrem Manne: »Ich habe Ihren Brief erhalten. A.« Darauf klingelte sie und übergab das Schreiben dem Diener.
»Wir reisen nicht«, sagte sie zu der eintretenden Annuschka.
»Überhaupt nicht?«
»Das kann ich noch nicht bestimmen; vor morgen soll noch nicht wieder ausgepackt werden. Der Wagen soll noch dableiben; ich will zur Fürstin fahren.«
»Welches Kleid soll ich bringen?«
17
D ie Spielgesellschaft bei der Krocketpartie, zu der die Fürstin Twerskaja Anna eingeladen hatte, sollte aus zwei Damen und den Verehrern der einen bestehen. Diese beiden Damen waren die wichtigsten Mitglieder eines neuen, adelsstolzen Petersburger Kreises, der in Nachahmung einer Nachahmung les sept merveilles du monde 1 genannt wurde. Der Kreis, dem diese Damen angehörten, war allerdings sehr hoch, stand aber dem, wo Anna zu verkehren pflegte, durchaus feindlich gegenüber. Außerdem war der alte Stremow, der Verehrer von Lisa Merkalowa und einer der einflußreichsten Männer in Petersburg, auf dem Gebiete der amtlichen Tätigkeit ein Gegner Alexei Alexandrowitschs. Aus allen diesen Gründen hatte Anna ursprünglich nicht hinkommen wollen, und auf diese ihre ablehnende Antwort bezogen sich die Andeutungen in dem Schreiben der Fürstin Twerskaja. Jetzt aber beabsichtigte Anna, in der Hoffnung, Wronski dort zu treffen, doch hinzufahren.
Anna kam bei der Fürstin Twerskaja früher an als die anderen Gäste.
In dem Augenblicke, als sie ins Haus trat, wollte gerade auch Wronskis Diener hineingehen, der mit seinem nach beiden Seiten auseinandergekämmten Backenbarte wie ein Kammerjunker aussah. Er blieb an der Tür stehen, nahm die Mütze ab und ließ sie vorangehen. Anna erkannte ihn, und erst jetzt fiel ihr ein, daß ja Wronski am vorhergehenden Tage gesagt hatte, er werde nicht hinkommen. Wahrscheinlich enthielt das Schreiben, das er durch den Diener schickte, seine Absage.
Während sie im Vorzimmer ablegte, hörte sie, wie der Diener, der sogar das R wie ein Kammerjunker aussprach, sagte: »Vom Grafen für die Fürstin«, und das Schreiben übergab.
Sie hätte ihn gern gefragt, wo sein Herr sei. Sie wäre gern wieder umgekehrt und hätte ihm einen Brief geschrieben, daß er zu ihr kommen möchte, oder wäre auch selbst zu ihm gefahren. Aber weder das eine noch das andere noch das dritte ließ sich ausführen: denn schon erscholl vorn das Glockenzeichen, das ihre Ankunft ankündigte, und ein Diener der Fürstin Twerskaja stand schon halb zugewandt an der geöffneten Tür und wartete darauf, daß sie in die inneren Gemächer einträte.
»Die Frau Fürstin befindet sich im Garten; es wird bereits gemeldet. Ist es vielleicht gefällig, sich in den Garten zu begeben?« meldete ein zweiter Diener im zweiten Zimmer.
Sie fühlte sich hier ganz ebenso unentschlossen und unklar wie zu Hause; ja dieser Zustand war hier sogar insofern noch schlimmer,
Weitere Kostenlose Bücher