Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Rubel jährlich ausbedungen. Alexei hatte damals zu seinem Bruder gesagt, diese Summe würde für ihn ausreichend sein, solange er sich nicht verheiratete, was aller Wahrscheinlichkeit nach nie geschehen werde. Und sein Bruder, der eines der teuersten Regimenter befehligte und sich soeben verheiratet hatte, war gezwungen gewesen, dieses Geschenk anzunehmen. Die Mutter, die eigenes Vermögen besaß, gab ihrem jüngeren Sohne zu den ausbedungenen fünfundzwanzigtausend Rubeln noch zwanzigtausend jährlich dazu, und Alexei hatte bisher das alles verbraucht. In der letzten Zeit aber hatte seine Mutter, die ihm wegen seiner Beziehungen zu Frau Karenina und wegen seiner Abreise aus Moskau grollte, ihm kein Geld mehr geschickt. Da sich Wronski bereits an eine Lebenshaltung gewöhnt gehabt hatte, bei der er fünfundvierzigtausend Rubel jährlich ausgab, und in diesem Jahre nur fünfundzwanzigtausend Rubel erhielt, so befand er sich jetzt infolgedessen in einer schwierigen Lage. Seine Mutter um Geld zu bitten, um aus dieser Lage herauszukommen, war unmöglich. Ihr letzter Brief, der ihm tags zuvor zugegangen war, hatte ihn gerade dadurch gereizt, daß die Mutter darin andeutete, sie sei gern bereit, ihn durch eine Beihilfe auf dem Wege zu Erfolgen in der Gesellschaft und im Dienste zu fördern, aber nicht, ihm dadurch ein Leben zu ermöglichen, über das die ganze gute Gesellschaft entrüstet sei. Dieser Versuch, ihn zu erkaufen, beleidigte ihn in tiefster Seele und erkältete sein Empfinden gegen die Mutter noch mehr. Das großmütige Zugeständnis aber, das er seinem Bruder gemacht hatte, konnte er nicht gut wieder rückgängig machen, obgleich er jetzt mancherlei Zwischenfälle, die sein Verhältnis zu Frau Karenina zur Folge haben konnte, dunkel vorausahnte und sich sagte, daß jenes großmütige Zugeständnis eine Handlung des Leichtsinns gewesen sei und daß er auch als Unverheirateter sämtliche hunderttausend Rubel Jahreseinnahme möglicherweise nötig haben werde. Aber das Getane wieder rückgängig zu machen, war unmöglich. Er brauchte nur an die Frau seines Bruders zu denken, brauchte nur daran zu denken, wie diese liebe, prächtige Warja bei jeder geeigneten Gelegenheit ihm gegenüber hervorhob, daß sie seiner großmütigen Handlungsweise eingedenk sei und sie zu schätzen wisse, um sich über die Unmöglichkeit klarzuwerden, das einmal Hingegebene wieder zurückzufordern. Das war ebenso unmöglich, wie eine Frau zu schlagen oder zu stehlen oder zu lügen. Es gab nur ein mögliches und darum auch notwendiges Mittel, zu dem sich Wronski denn auch, ohne einen Augenblick zu schwanken, entschloß: von einem Geldverleiher Geld, zehntausend Rubel, zu borgen, was keine Schwierigkeiten haben konnte, seine Ausgaben in jeder Hinsicht einzuschränken und seine Rennpferde zu verkaufen. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, schrieb er sofort ein paar Zeilen an Rolandaki, der sich schon mehrmals an ihn mit dem Vorschlage gewendet hatte, er wolle ihm seine Pferde abkaufen. Darauf ließ er den Engländer und einen Geldverleiher zu sich bestellen und teilte das Geld, das er besaß, nach Maßgabe einiger Rechnungen in einzelne Summen. Nachdem er das erledigt hatte, schrieb er seiner Mutter einen kalten, scharfen Antwortbrief. Darauf holte er aus seiner Brieftasche drei Briefe heraus, die ihm Anna geschrieben hatte, las sie noch einmal durch, verbrannte sie und versank bei der Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit ihr in ernstes Nachdenken.
20
W ronski fühlte sich in seinem Leben besonders infolge davon glücklich, daß er eine Art Kodex von Grundsätzen besaß, durch den in einer jeden Zweifel ausschließenden Weise bestimmt wurde, was er tun und nicht tun mußte. Der Kodex dieser Grundsätze umfaßte nur einen sehr kleinen Kreis von Lebensbeziehungen; aber dafür waren auch diese Grundsätze keinem Zweifel unterworfen, und Wronski, der nie aus diesem Kreise hinauskam, hatte bei der Ausführung dessen, was ihm zu tun oblag, nie auch nur einen Augenblick geschwankt. Diese Grundsätze bestimmten gebieterisch: daß man seine Schuld an einen Falschspieler bezahlen müsse, es aber bei einem Schneider nicht zu tun brauche; daß man Männer nicht belügen dürfe, wohl aber Frauen; daß es unzulässig sei, jemanden zu betrügen, zulässig sei der Betrug aber einem Ehemanne gegenüber; daß man Beleidigungen nicht verzeihen dürfe, aber das Recht habe, andere Leute zu beleidigen, und so weiter. Alle diese Grundsätze
Weitere Kostenlose Bücher