Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
doch immer, daß man gesund ist; nun, und meine Gesundheit hat sich, Gott sei Dank, gebessert.«
     
    Konstantin Ljewin hörte zu und überlegte, was er nun seinerseits sagen könnte, vermochte aber keine passende Erwiderung zu finden. Wahrscheinlich fühlte Nikolai ihm das nach; er begann den Bruder nach dem Gange seiner Wirtschaftsangelegenheiten zu fragen, und Konstantin freute sich, von sich selbst sprechen zu können, weil er da reden konnte, ohne sich zu verstellen. Er erzählte dem Bruder von seinen Plänen und Unternehmungen.
     
    Der Bruder hörte zu, interessierte sich aber augenscheinlich nicht dafür.
     
    Diese beiden Menschen waren miteinander so eng verwandt und standen sich so nahe, daß die geringste Bewegung, der bloße Ton der Stimme für sie mehr besagte als alles, was man mit Worten sagen kann. Jetzt hatten sie beide nur einen Gedanken, der alles übrige erstickte: den an Nikolais Krankheit und nahen Tod. Aber weder der eine noch der andere wagte davon zu sprechen, und daher trug alles, was sie nur reden konnten, den Charakter der Unwahrhaftigkeit an sich, weil es nicht das zum Ausdruck brachte, was sie ausschließlich beschäftigte. Noch nie hatte sich Konstantin so sehr darüber gefreut, daß der Abend vorbei war und man schlafen gehen mußte, wie heute. Noch nie, keinem Fremden gegenüber und bei keinem bloßen Höflichkeitsbesuche, war er so verstellt und unaufrichtig gewesen, wie an diesem Tage. Und von dem Bewußtsein dieser Verstellung und dem Schamgefühl darüber wurde sein Benehmen noch unnatürlicher. Er hätte weinen mögen über seinen geliebten Bruder, der dem Tode entgegenging, und er mußte ihm zuhören, wie dieser seine künftige Lebensweise auseinandersetzte, und selbst darüber mitreden.
     
    Da es im Hause feucht und nur ein Zimmer geheizt war, so ließ Konstantin für seinen Bruder in seinem eigenen Schlafzimmer ein Bett hinter einem Wandschirm zurechtmachen.
     
    Nikolai legte sich hin; ob er nun schlief oder nicht, jedenfalls wälzte er sich wie ein Kranker umher; er hustete viel, und wenn er beim Husten die Kehle nicht ordentlich frei bekam, so brummte er etwas vor sich hin. Manchmal, wenn ihm das Atmen schwer wurde, sagte er: »Ach, mein Gott!« Manchmal, wenn ihn der Schleim zu ersticken drohte, fluchte er ärgerlich: »Zum Teufel nochmal!« Konstantin konnte lange nicht einschlafen, weil er ihn immer hörte. Seine Gedanken waren von sehr verschiedener Art, hatten aber alle ein und denselben Endpunkt: den Tod.
     
    Der Tod, das unvermeidliche Ende von allem, trat ihm zum erstenmal mit unwiderstehlicher Gewalt vor Augen. Dieser Tod hauste bereits dort, in dem geliebten Bruder, der im Halbschlaf stöhnte und nach seiner Gewohnheit unterschiedslos bald Gott, bald den Teufel anrief, und war auch ihm, Konstantin, gar nicht so fern, wie es ihm früher geschienen hatte. Der Tod steckte auch schon in ihm selbst; das fühlte er. Wenn nicht heute, dann morgen; wenn nicht morgen, dann nach dreißig Jahren: kam das nicht auf dasselbe hinaus? Aber was dieser unvermeidliche Tod eigentlich war, das wußte er nicht, und er hatte auch niemals darüber nachgedacht, ja, er hatte auch gar nicht verstanden, darüber nachzudenken, und es nicht gewagt.
     
    ›Ich arbeite, ich will etwas schaffen, und ich habe vergessen, daß alles ein Ende nimmt, daß es einen Tod gibt.‹
     
    Er setzte sich im Dunkeln auf dem Bette aufrecht, beugte sich vor, umfaßte seine Knie und dachte in dieser Haltung so angestrengt nach, daß er dabei den Atem anhielt. Aber je mehr er seine Denkkraft anstrengte, um so deutlicher wurde es ihm, daß es sich unzweifelhaft so verhielt: er hatte tatsächlich im Leben einen kleinen Umstand vergessen und übersehen, den Umstand, daß der Tod komme und alles ein Ende nehme, daß es nicht der Mühe lohne, etwas zu beginnen, und daß es dagegen schlechterdings keine Hilfe gebe. ›Ja, das ist furchtbar; aber es ist so.
     
    Aber noch lebe ich ja. Was muß ich also jetzt tun? Ja, was?‹ fragte er sich verzweifelt. Er zündete ein Licht an, stand leise auf, ging zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht und seine Haare. Ja, an den Schläfen waren schon graue Haare zu sehen. Er machte den Mund auf. Die Backzähne begannen bereits schlecht zu werden. Er entblößte seine muskulösen Arme. Ja, Kraft besaß er, viel Kraft. Aber auch Nikolai, der dort mit den kläglichen Resten seiner Lunge atmete, hatte ehemals einen gesunden Körper gehabt. Und auf einmal fiel ihm ein, wie sie als

Weitere Kostenlose Bücher