Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
geteilt würde. Im ersten Augenblick fühlte er sich gekränkt; aber in der gleichen Sekunde fühlte er auch, daß sie ihn gar nicht kränken könne, daß sie und er dieselbe Person seien. Er hatte im ersten Augenblick eine Empfindung, wie wenn jemand plötzlich von hinten einen heftigen Stoß erhält, sich zornig und rachbegierig umdreht, um den Schuldigen zu entdecken, und sich nun überzeugt, daß er sich selbst unversehens gestoßen hat, daß er auf niemand zornig zu sein Anlaß hat und den Schmerz eben ertragen und nach Möglichkeit lindern muß.
     
    In späteren Jahren empfand er all das nie wieder mit solcher Stärke; aber dieses erstemal war der Schmerz so heftig, daß Ljewin lange Zeit seine Fassung nicht wiedergewinnen konnte. Ein natürliches Gefühl verlangte von ihm, daß er sich rechtfertige und ihr ihr Unrecht nachweise; aber er sagte sich, wenn er das täte, so würde er sie dadurch nur noch mehr reizen und den Riß, der die Ursache des ganzen Kummers war, nur noch vergrößern. Ein Gefühl, das ihm durch die Gewohnheit geläufig war, trieb ihn, die Schuld von sich abzuweisen und ihr zuzuschieben; aber ein anderes Gefühl, stärker als jenes, riet ihm, den eingetretenen Riß schnell, so schnell wie nur möglich, wieder auszubessern und ihm keine Zeit zu lassen, sich noch zu erweitern. Eine so ungerechte Beschuldigung auf sich sitzen zu lassen war ja schmerzlich; aber Kitty durch eine Rechtfertigung weh zu tun, das war noch schlimmer. Wie jemand, der im Halbschlaf einen quälenden Schmerz fühlt, so wollte er das, was den Schmerz verursachte, von sich losreißen und wegschleudern und merkte, zur Besinnung kommend, daß das, was den Schmerz verursachte, ein Teil seines eigenen Selbst war. Die Aufgabe konnte nur darin bestehen, dem kranken Teile beim Überstehen des Schmerzes behilflich zu sein, und er bemühte sich, dies zu tun.
     
    Sie versöhnten sich. Kitty, die ihre Schuld eingesehen hatte, wenn sie sie auch nicht zugestand, wurde noch zärtlicher gegen ihn, und beide empfanden ihr Liebesglück doppelt. Aber das verhinderte nicht, daß sich derartige Zusammenstöße wiederholten, und sogar recht oft und bei den unerwartetsten und nichtigsten Anlässen. Diese Zusammenstöße kamen oft daher, daß sie beiderseits noch nicht wußten, was dem andern Herzenssache war, oft aber auch daher, daß sie beide in dieser ersten Zeit häufig schlechter Laune waren. War der eine von ihnen gut gelaunt und der andere schlecht gelaunt, so wurde der Friede nicht gestört; aber wenn zufällig beide mißgestimmt waren, so gingen Zusammenstöße aus so unbegreiflich nichtigen Ursachen hervor, daß sie sich nachher gar nicht mehr erinnern konnten, warum sie eigentlich miteinander gestritten hatten. Freilich war anderseits, wenn sich beide in guter Stimmung befanden, ihre Freude am Leben auch wieder doppelt. Aber doch war diese erste Zeit für sie beide recht schwer.
     
    Während der ganzen ersten Zeit machte sich eine Art von Spannung lebhaft fühlbar, als ob die Kette, durch die sie verknüpft waren, bald nach der einen, bald nach der andern Seite gezogen würde. Überhaupt war dieser Honigmond, das heißt der erste Monat nach der Hochzeit, von dem auf Grund der überlieferten Anschauung Ljewin soviel erwartet hatte, keineswegs honigsüß, sondern er blieb in der Erinnerung der beiden Gatten als die schwerste, beschämendste Zeit ihres Lebens haften. Beide bemühten sich in gleicher Weise im späteren Leben, all die häßlichen, beschämenden Vorfälle dieser krankhaften Zeitspanne, in der sie beide sich selten in normaler Stimmung befunden hatten und selten sie selbst gewesen waren, aus ihrem Gedächtnisse auszulöschen.
     
    Erst im dritten Monat ihrer Ehe, nach ihrer Rückkehr aus Moskau, wohin sie zu einmonatigem Aufenthalt gereist waren, gestaltete sich ihr Leben gleichmäßiger.
     

15
     
    S ie waren eben erst aus Moskau zurückgekommen und freuten sich der Stille und Einsamkeit auf dem Gute. Er saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und schrieb. Sie ihrerseits saß in jenem dunkellila Kleid, das sie in den ersten Tagen der Ehe getragen und nun einmal wieder angezogen hatte und das ihm besonders denkwürdig und teuer war, auf dem Sofa, jenem altmodischen Ledersofa, das immer, schon zur Zeit von Ljewins Großvater und Vater, in diesem Zimmer gestanden hatte, und stickte an einer Handarbeit. Er überlegte und schrieb und blieb sich dabei unaufhörlich mit innigem Vergnügen ihrer Gegenwart bewußt. Seine

Weitere Kostenlose Bücher