Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Beschäftigung mit der Gutswirtschaft und mit dem Buche, in dem er die Grundlagen eines neuen Systems der Landwirtschaft vortragen wollte, hatte er nicht aufgegeben; aber wie ihm früher diese Tätigkeit und diese Ideen kleinlich und nichtig erschienen waren im Vergleich mit der Finsternis, die sich über das ganze Leben ausbreitet, ebenso unwichtig und kleinlich kamen sie ihm jetzt vor gegenüber dem hellen Glanze des Glücks, der über das ganze ihm noch bevorstehende Leben ausgegossen lag. Er setzte seine Beschäftigungen fort; aber er fühlte jetzt, daß der Schwerpunkt seiner Neigung nun an einer an deren Stelle lag und daß er infolgedessen für die Sache eine ganz andere, klarere Anschauung gewonnen hatte. Früher hatte er sich gleichsam aus dem Leben in diese Tätigkeit hineingerettet. Früher hatte er die Empfindung gehabt, ohne diese Tätigkeit würde sein Leben gar zu trübe und düster sein. Jetzt dagegen war ihm diese Tätigkeit notwendig, damit sein Leben nicht allzu gleichmäßig hell und glanzvoll sei. Als er wieder zu seinen Papieren gegriffen und das Geschriebene noch einmal durchgelesen hatte, da hatte er zu seiner Freude gefunden, daß die Sache es wert sei, daß er sich weiter mit ihr beschäftige. Viele seiner früheren Ideen erschienen ihm als überflüssig und zu weitgehend; aber anderseits bemerkte er auch, während er die ganze Sache in seinem Gedächtnis wieder auffrischte, mancherlei Lücken und wurde sich darüber klar, wie diese auszufüllen seien. Er schrieb jetzt ein neues Kapitel: über die Ursachen der ungünstigen Lage der Landwirtschaft in Rußland. Er wies nach, daß die Armut in Rußland nicht nur von der ungerechten Verteilung des Grundbesitzes und dem falschen Verwaltungssystem herrühre, sondern daß dazu in letzter Zeit auch die dem Lande in naturwidriger Weise aufgepfropfte äußerliche Zivilisation beigetragen habe, namentlich die Verkehrswege, die Eisenbahnen, die eine Zentralisation in den Städten zur Folge hätten, das Steigen des Luxus und infolgedessen zum Schaden der Landwirtschaft die Entwicklung des Fabrikwesens, des Kreditwesens und in notwendigem Zusammenhange damit des Börsenspiels. Er war der Ansicht, daß, wenn sich in einem Lande der nationale Wohlstand in normaler Weise entwickele, alle diese neuen Erscheinungen erst dann einträten, wenn auf die Landwirtschaft bereits ein erheblicher Teil von Arbeit verwandt sei und die Landwirtschaft in wohlgeordnete oder wenigstens geregelte Verhältnisse gelangt sei; daß der Reichtum eines Landes gleichmäßig anwachsen müsse und namentlich so, daß andere Erwerbszweige die Landwirtschaft nicht überflügelten; daß die Verkehrswege mit dem jeweiligen Zustand der Landwirtschaft in Übereinstimmung gehalten werden müßten und daß bei unserer nicht normalen Ausnutzung des Bodens die nicht durch ein ökonomisches, sondern durch das politische Bedürfnis hervorgerufenen Eisenbahnen verfrüht seien und statt, wie man es erwartet habe, die Landwirtschaft zu heben, sie überflügelt und durch Förderung der Entwicklung des Fabrik- und Kreditwesens zum Stillstand gebracht hätten, und daß, ebenso wie die einseitige und vorzeitige Entwicklung eines Organs bei einem lebenden Wesen der allgemeinen Entwicklung hinderlich sein würde, so auch bei der allgemeinen Entwicklung des Wohlstandes in Rußland das Kreditwesen, die Verkehrswege, die Steigerung der Fabriktätigkeit (Dinge, die in Europa, weil dort zeitgemäß, unzweifelhaft notwendig seien) bei uns nur Schaden angerichtet hätten, da dadurch die wichtigste Tagesfrage, die Reform der Landwirtschaft, in den Hintergrund gedrängt worden sei.
Während er an seinem Buche schrieb, dachte sie daran, mit welch einer gezwungenen Höflichkeit sich ihr Mann gegen den jungen Fürsten Tscharski benommen habe, der ihr am Tage vor der Abreise in recht taktloser Weise den Hof gemacht hatte. ›Er ist ja eifersüchtig!‹ dachte sie. ›Mein Gott, wie allerliebst und wie dumm er ist! Eifersüchtig um meinetwillen! Wenn er wüßte, daß mir alle diese Leute genauso gleichgültig sind wie unser Koch Peter‹, dachte sie, indem sie mit einem ihr selbst seltsam vorkommenden Eigentumsgefühl nach seinem Hinterkopf und seinem roten Halse blickte. ›Obwohl es mir leid tut, ihn von seiner Tätigkeit abzulenken (aber mit der hat es ja auch keine Eile!), so möchte ich doch gar zu gern sein Gesicht sehen. Ob er es wohl fühlt, daß ich zu ihm hinschaue? Ich will, daß er sich umdreht ... Ich
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