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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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Erkenntnis, zu der der Sterbende jetzt gelangt war, während sie ihm selbst noch unzugänglich blieb.
     
    Noch lange saß er so an seinem Bett und wartete immer auf das Ende. Aber das Ende kam noch nicht. Die Tür öffnete sich, und Kitty erschien. Konstantin stand auf, um sie zurückzuhalten. Aber in dem Augenblick, als er aufstand, hörte er, daß der Sterbende sich regte.
     
    »Geh nicht fort«, sagte Nikolai und streckte die Hand aus. Konstantin gab ihm die seinige und winkte seiner Frau ärgerlich zu, sie möchte hinausgehen.
     
    Die Hand des Sterbenden in der seinen haltend, saß er eine halbe Stunde da, eine ganze Stunde, und noch eine Stunde. An den Tod dachte er jetzt überhaupt nicht mehr. Er dachte, was wohl jetzt Kitty tue, wer in dem anstoßenden Zimmer wohne, ob der Arzt ein eigenes Haus habe. Er bekam Lust, etwas zu essen, auch regte sich der Wunsch zu schlafen. Vorsichtig machte er seine Hand frei und befühlte die Füße. Sie waren kalt; aber der Kranke atmete immer noch. Konstantin versuchte wieder, auf den Fußspitzen hinauszugehen; aber der Kranke rührte sich wieder und sagte: »Geh nicht fort.«
     
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    Die Morgendämmerung kam; der Zustand des Kranken war immer noch der gleiche. Konstantin machte ganz leise, ohne den Sterbenden anzublicken, seine Hand frei, ging nach seinem Zimmer und legte sich schlafen. Als er wieder erwachte, erfuhr er, statt der Nachricht vom Tode seines Bruders, die er erwartet hatte, daß der Kranke wieder in den früheren Zustand zurückgekehrt sei. Er setzte sich wieder ab und zu hin, hustete, aß und redete; und er redete nicht mehr vom Tode, sondern sprach wieder die Hoffnung auf Genesung aus und war noch reizbarer und finsterer geworden als vorher. Niemand, weder sein Bruder noch Kitty, vermochte ihn zu beruhigen. Er war auf alle ärgerlich und sagte allen Unangenehmes; allen machte er seine Leiden zum Vorwurf und verlangte, man solle ihm den berühmten Arzt aus Moskau kommen lassen. Auf alle an ihn gerichteten Fragen, wie er sich fühle, antwortete er gleichmäßig mit einem Ausdrucke des Ingrimms und des Vorwurfs: »Ich leide furchtbar, unerträglich!«
     
    Die Leiden des Kranken wurden immer schlimmer, namentlich auch wegen der durchgelegenen Stellen, die nicht mehr geheilt werden konnten; er ärgerte sich immer mehr über alle, die um ihn waren, machte ihnen alles mögliche zum Vorwurf und schalt sie besonders deswegen, weil sie ihm nicht den Arzt aus Moskau kommen ließen. Kitty bemühte sich auf jede Weise, ihm zu helfen und ihn zu beruhigen; aber es war alles vergeblich, und Konstantin sah, daß sie selbst körperlich und seelisch erschöpft war, obwohl sie es nicht zugeben wollte. Das erste feierliche Gefühl der Nähe des Todes, das in aller Herzen durch Nikolais Abschied vom Leben in jener Nacht hervorgerufen war, wo er den Bruder hatte rufen lassen, dieses Gefühl war zerstört. Alle wußten, daß er mit Notwendigkeit und in Bälde sterben werde, daß er bereits halb eine Leiche sei; alle hatten nur den einen Wunsch, daß er recht bald sterben möge. Aber alle verheimlichten diese Erkenntnis und diesen Wunsch, reichten ihm aus dem Fläschchen seine Arznei, ließen andere Arzneien und andere Ärzte holen und suchten den Kranken zu täuschen und jeder sich selbst und einer den andern. All das war Lüge, häßliche, beleidigende, frevelhafte Lüge. Und diese Lüge empfand Konstantin Ljewin von allen am schmerzlichsten, sowohl infolge seiner Charakterbeschaffenheit, wie auch weil er den Sterbenden am meisten liebte.
     
    Konstantin, den schon lange der Gedanke beschäftigte, die Brüder wenigstens vor dem Tode noch miteinander zu versöhnen, hatte an den Bruder Sergei Iwanowitsch geschrieben, und als er seine Antwort erhalten hatte, las er dem Kranken den Brief vor. Sergei Iwanowitsch schrieb, es sei ihm nicht möglich, selbst zu kommen, bat aber in rührenden Ausdrücken den Bruder um Verzeihung.
     
    Der Kranke äußerte nichts dazu.
     
    »Was soll ich ihm zurückschreiben?« fragte Konstantin. »Ich hoffe, du bist nicht mehr zornig auf ihn?«
     
    »Nein, gar nicht!« antwortete Nikolai ärgerlich auf diese Frage. »Schreib ihm, er soll mir den Arzt herschicken.«
     
    Es vergingen noch drei qualvolle Tage; der Kranke verblieb immer im gleichen Zustand. Den Wunsch, daß er bald sterben möge, teilten jetzt alle, die ihn sahen oder von

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