Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
seinem Zustand wußten: die Dienerschaft des Hotels, und der Wirt, und sämtliche Gäste, und der Arzt, und Marja Nikolajewna, und Konstantin Ljewin, und Kitty. Einzig und allein der Kranke sprach keinen derartigen Wunsch aus, sondern war im Gegenteil darüber aufgebracht, daß man nicht den Moskauer Arzt kommen lasse, und fuhr fort, seine Arzneien zu nehmen und vom Leben zu sprechen. Nur in den seltenen Augenblicken, wo das Opium ihn auf kurze Zeit seine ununterbrochenen Leiden vergessen ließ, sprach er mitunter im Halbschlummer den Gedanken aus, der im Grunde stärker als bei allen anderen in seiner Seele rege war: »Ach, wenn es doch erst zu Ende wäre!« oder: »Wann wird das zu Ende sein?«
     
    Die stetig sich steigernden Schmerzen taten ihr Werk und bereiteten ihn zum Tode vor. Es gab schon keine Körperlage mehr, in der er nicht gelitten hätte, keinen Augenblick, wo er sich seiner Schmerzen nicht bewußt gewesen wäre, an seinem ganzen Leibe keinen Fleck, keinen Teil, der ihm nicht weh getan, ihn nicht gepeinigt hätte. Sogar die Erinnerungen, die seelischen Empfindungen, die Gedanken, die in diesem Körper noch vorhanden waren, riefen bei dem Kranken jetzt schon denselben Widerwillen hervor wie der Körper selbst. Der Anblick anderer Menschen, ihre Reden, seine eigenen Erinnerungen, alles dies bereitete ihm lediglich Schmerz und Pein. Seine Umgebung fühlte das, und unwillkürlich vermied es jeder, im Zimmer des Kranken sich frei zu bewegen, ein Gespräch zu führen oder einen Wunsch auszusprechen. Sein gesamter Rest von Lebenstätigkeit beschränkte sich ausschließlich auf das Empfinden seines Leidens und auf den Wunsch, davon erlöst zu werden.
     
    Es vollzog sich in seinem Innern offenbar jener Umschwung, der ihn dahin bringen mußte, im Tod die Erfüllung seiner Wünsche, sein Glück zu sehen. Früher war jeder besondere, durch das Leiden oder durch irgendeinen Mangel hervorgerufene Wunsch, wie Hunger, Müdigkeit, Durst, durch eine Tätigkeit des Körpers befriedigt worden, die ihm Genuß gewährte; jetzt aber war bei seinem Leiden und allem, was er entbehrte, eine Befriedigung seiner Wünsche unmöglich geworden, und jeder Versuch einer Befriedigung verursachte nur neues Leiden. Und daher fanden sich alle seine Wünsche in dem einen Wunsche zusammen, von allen seinen Leiden und von deren Quelle, dem Körper, befreit zu werden. Aber er fand keine Worte, um diesen Wunsch nach Befriedigung auszudrücken, und daher sprach er von diesem Wunsche gar nicht, sondern forderte aus alter Gewohnheit die Erfüllung solcher Wünsche, die doch nicht mehr zu seiner Befriedigung erfüllt werden konnten. »Legt mich auf die andere Seite«, sagte er und forderte gleich darauf, man solle ihn wieder wie vorher lagern. – »Gebt mir Fleischbrühe!« – »Nehmt die Fleischbrühe weg.« – »Erzählt doch etwas; warum schweigt ihr denn immer?« Und sobald sie zu reden anfingen, schloß er die Augen und bekundete Müdigkeit, Gleichgültigkeit und Widerwillen.
     
    Am zehnten Tage nach der Ankunft in der Stadt wurde Kitty krank. Sie hatte Kopfschmerzen und Erbrechen und mußte den ganzen Vormittag über im Bett bleiben.
     
    Der Arzt äußerte, die Krankheit komme von Übermüdung und Aufregung, und verordnete ihr seelische Ruhe.
     
    Am Nachmittag stand Kitty aber doch auf und ging wie immer mit ihrer Handarbeit zu dem Kranken. Er sah sie bei ihrem Eintritt mit einem strengen Blick an und lächelte geringschätzig, als sie sagte, sie sei krank gewesen. An diesem Tage mußte er sich beständig die Nase schnauben und stöhnte kläglich.
     
    »Wie fühlen Sie sich?« fragte sie ihn.
     
    »Schlechter«, brachte er mühsam heraus. »Ich habe Schmerzen.«
     
    »Wo haben Sie denn Schmerzen?«
     
    »Überall.«
     
    »Heute geht es mit ihm zu Ende; Sie werden sehen«, sagte Marja Nikolajewna, zwar flüsternd, aber doch so laut, daß der Kranke, der, wie Konstantin gemerkt hatte, sehr feinhörig war, es gehört haben mußte. Konstantin bedeutete ihr durch Zischen, sie solle still sein, und sah nach dem Kranken hin. Nikolai hatte es gehört; aber diese Worte hatten auf ihn gar keinen Eindruck gemacht. Sein Blick war immer gleich vorwurfsvoll und gespannt.
     
    »Warum denken Sie das?« fragte Konstantin sie, als sie ihm auf den Flur hinaus gefolgt war.
     
    »Er hat angefangen, sich sauber zu machen«, antwortete Marja Nikolajewna.
     
    »Was heißt das: sich sauber zu machen?«
     
    »Sehen Sie: so!« erwiderte sie, indem sie

Weitere Kostenlose Bücher