Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
an den Falten ihres wollenen Kleides herumzupfte. Und in der Tat hatte Konstantin bemerkt, daß der Kranke diesen ganzen Tag über an sich herumgegriffen hatte, wie wenn er etwas abzupfen wollte.
Marja Nikolajewnas Voraussage erwies sich als richtig. Der Kranke war zur Nacht nicht mehr imstande, die Arme zu heben, und sah nur vor sich hin, ohne daß sich jemals der aufmerksam gespannte Ausdruck seines Blickes geändert hätte. Selbst wenn sein Bruder oder Kitty sich über ihn beugten, so daß er sie sehen konnte, behielt er dieselbe Art zu blicken bei. Kitty ließ einen Geistlichen holen, der das Sterbegebet lesen sollte.
Während der Geistliche das Gebet las, gab der Sterbende keinerlei Lebenszeichen von sich; seine Augen waren geschlossen. Konstantin, Kitty und Marja Nikolajewna standen neben dem Bett. Der Geistliche hatte das Gebet noch nicht bis zu Ende gelesen, als der Sterbende sich ausstreckte, seufzte und die Augen öffnete. Als der Geistliche das Gebet beendet hatte, legte er ihm das Kreuz an die kalte Stirn und wickelte es dann langsam in sein Schultertuch ein; nachdem er noch etwa zwei Minuten schweigend dagestanden hatte, berührte er die erkaltete blutleere große Hand.
»Er ist verschieden«, sagte der Geistliche und wollte zurücktreten; aber plötzlich bewegte sich der zusammengeklebte Schnurrbart des Daliegenden, und in der Stille wurden die aus tiefer Brust scharf und bestimmt herauskommenden Worte deutlich vernehmbar:
»Noch nicht ganz ... aber bald.«
Eine Minute später hellte sich sein Gesicht auf, unter seinem Schnurrbart zeigte sich ein Lächeln, und die Leichenfrauen, die sich schon versammelt hatten, gingen geschäftig daran, den Toten zurechtzumachen.
Der Anblick des Bruders und die Nähe des Todes hatten in Konstantin Ljewins Seele jenes Gefühl des Grausens vor der Rätselhaftigkeit des Todes und zugleich vor seiner Nähe und Unvermeidlichkeit wieder von neuem wachgerufen, das an dem Herbstabend, wo sein Bruder zu ihm auf Besuch gekommen war, sich seiner bemächtigt hatte. Dieses Gefühl war jetzt in ihm noch stärker als vorher; er fühlte sich jetzt noch weniger fähig als früher, das eigentliche Wesen des Todes zu verstehen, und seine Unvermeidlichkeit erschien ihm noch furchtbarer. Aber jetzt brachte ihn dieses Gefühl, dank der Gegenwart seiner Frau, nicht zur Verzweiflung; denn trotz der Gegenwart des Todes fühlte er die Notwendigkeit, zu leben und zu lieben. Er fühlte, daß die Liebe ihn vor der Verzweiflung rettete und daß diese Liebe infolge der drohenden Verzweiflung noch stärker und reiner wurde.
Kaum hatte sich vor seinen Augen das ungelöst gebliebene Geheimnis des Todes vollzogen, als ein anderes, ebenso rätselhaftes Geheimnis vor ihm erstand, das zur Liebe und zum Leben aufforderte.
Der Arzt stellte die Richtigkeit der Vermutung fest, die er im stillen über Kitty gehabt hatte: ihr Unwohlsein rührte von Schwangerschaft her.
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V on dem Augenblick an, wo Alexei Alexandrowitsch aus den Unterredungen mit Betsy und mit Stepan Arkadjewitsch ersehen hatte, daß man weiter nichts von ihm verlange, als daß er seine Frau in Ruhe lassen und sie nicht mit seiner Gegenwart belästigen möge und daß seine Frau dies selbst wünsche, seitdem fühlte er sich so rat- und fassungslos, daß er zu keinem eigenen Entschluß fähig war und selbst nicht wußte, was er nun eigentlich wollte. So überließ er sich denn ganz der Leitung der Personen, die sich seiner Angelegenheit mit so großem Vergnügen annahmen, und gab zu allem seine Zustimmung. Erst als Anna bereits sein Haus verlassen hatte und die Engländerin ihn fragen ließ, ob sie mit ihm zusammen oder allein speisen solle, kam er zum ersten Male zu einem klaren Verständnis seiner Lage und geriet über sie in Entsetzen.
Was in dieser Lage am schwersten auf ihm lastete, das war, daß er schlechterdings nicht imstande war, seine Vergangenheit mit dem jetzigen Zustand zu vereinigen, zwischen beiden einen inneren Zusammenhang zu finden. Was ihn so in Verwirrung setzte, war nicht etwa jener Abschnitt der Vergangenheit, wo er mit seiner Frau ein glückliches Leben geführt hatte. Den Übergang von diesem Abschnitt der Vergangenheit zur Erkenntnis, daß ihm seine Frau untreu war, hatte er bereits wie ein Märtyrer verwunden; dieser zweite Zustand war schwer zu ertragen gewesen, aber es hatte darin für ihn nichts Unverständliches gelegen. Wäre seine Frau damals, nach dem
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