Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
schlimmere.«
»Für mich ist es eine schreckliche Empfindung, daß er mir immer so vor Augen steht, wie er in seiner Jugend war. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für ein prächtiger junger Mensch er war; aber ich hatte damals für ihn kein Verständnis.«
»Doch, ich kann es mir vorstellen, gewiß kann ich es mir vorstellen. Ich bin überzeugt, er und ich, wir wären gute Freunde geworden«, antwortete sie und blickte, erschrocken über das, was sie gesagt hatte, ihren Mann an, und die Tränen traten ihr in die Augen.
»Ja, es ist anders gekommen«, erwiderte er traurig. »Er ist eben einer von den Menschen, von denen man sagt: sie taugen nicht für diese Welt.«
»Aber es stehen uns noch viele schwere Tage bevor; wir müssen uns schlafen legen«, sagte Kitty nach einem Blick auf ihre winzige Uhr.
20
A m andern Tage nahm der Kranke das Abendmahl und empfing die Letzte Ölung. Während der heiligen Handlung betete Nikolai Ljewin heiß und inbrünstig. Er richtete seine großen Augen unverwandt auf das Heiligenbild, das auf einem mit einem geblümten Tuch bedeckten Spieltische stand, und es lag in ihnen ein so leidenschaftlicher Ausdruck des Flehens und der Hoffnung, daß es für Konstantin schrecklich war, hinzusehen. Er fühlte, daß dieses leidenschaftliche Flehen und Hoffen seinem Bruder den Abschied von diesem Leben, das er so sehr liebte, nur noch schwerer machte. Konstantin kannte seinen Bruder und dessen geistigen Entwicklungsgang; er wußte, daß Nikolais Unglaube nicht daher rührte, daß er es leichter gefunden hätte, ohne Glauben zu leben, sondern daher, daß sein Glaube Schritt für Schritt von den Erklärungen, die die moderne Wissenschaft von den irdischen Erscheinungen gibt, zurückgedrängt worden war, und daher wußte er, daß seine jetzige Rückkehr zum Glauben keine normale war, sich nicht auf dem Wege derselben Denkarbeit vollzog, sondern daß sie nur der Not des Augenblicks, dem Selbsterhaltungstrieb und einer sinnlosen Hoffnung auf Genesung entsprang. Auch wußte Konstantin, daß Kitty durch ihre Erzählungen von Fällen überraschender Genesung, von denen sie gehört habe, diese Hoffnung noch gesteigert hatte. Alles das wußte Konstantin, und es war ihm eine entsetzliche Pein, diesen flehenden, hoffnungsvollen Blick und diese abgemagerte Hand zu sehen, die sich nur mit Anstrengung hob, um auf dieser straff umspannten Stirn, auf diesen vorstehenden Schultern und der hohlen, röchelnden Brust das Zeichen des Kreuzes zu machen, während doch der arme Leib das Leben, um das der Kranke bat, nicht mehr in sich beherbergen konnte. Während der heiligen Handlung tat Konstantin das, was er, der Ungläubige, schon tausendmal getan hatte. Er wandte sich zu Gott und sprach: »Wenn Du lebst und bist, so mache, daß dieser Mensch wieder gesund werde« (diese letzteren Gebetsworte wiederholten sich ja im Laufe der heiligen Handlung oftmals), »und Du wirst ihn und mich retten.«
Nach der Ölung wurde dem Kranken auf einmal viel besser. Er hustete im Laufe einer Stunde kein einziges Mal, lächelte, küßte Kitty die Hand, dankte ihr unter Tränen und sagte, er fühle sich wohl, habe nirgends Schmerzen und verspüre wieder Appetit und neue Kraft. Er richtete sich sogar ohne Beihilfe auf, als ihm seine Suppe gebracht wurde, und bat noch um ein Kotelett. Obgleich sein Zustand völlig hoffnungslos war und man, wenn man den Kranken ansah, nicht zweifeln konnte, daß eine Genesung ausgeschlossen sei, so befanden sich Konstantin und Kitty doch diese Stunde hindurch in einer glücklichen Erregung und zugleich in einer ängstlichen Besorgnis, ob sie sich auch nicht täuschten.
»Geht es ihm besser?« – »Ja, bedeutend besser.« – »Wunderbar!« – »Dabei ist nichts Wunderbares.« – »Nun, jedenfalls geht es ihm besser«, sprachen sie flüsternd untereinander und lächelten einer dem andern zu.
Diese Selbsttäuschung war jedoch nicht von langer Dauer. Der Kranke war ruhig eingeschlafen; aber nach einer halben Stunde weckte ihn ein Hustenanfall auf. Und auf einmal waren alle Hoffnungen wieder verschwunden, sowohl bei seiner Umgebung wie auch bei ihm selbst. Die Schwere des tatsächlichen Leidens vernichtete bei Konstantin und bei Kitty und bei dem Kranken selbst alle bisherigen Hoffnungen, ohne daß auch nur eine Erinnerung daran oder irgendwelcher Zweifel übriggeblieben wäre.
Ohne von der religiösen Tröstung, an die er noch vor einer halben Stunde
Weitere Kostenlose Bücher