Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
vorüberziehen ließ und der ungeschickten Worte gedachte, mit denen er einst nach langem Schwanken ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte.
›Aber inwiefern trage ich eine Schuld?‹ fragte er sich. Und diese Frage rief bei ihm immer noch eine andere Frage hervor, nämlich ob wohl andere Leute, Leute wie dieser Wronski oder wie dieser Oblonski oder wie dieser Kammerherr mit den dicken Waden, in anderer Weise empfänden, in anderer Weise liebten, in anderer Weise heirateten. Er vergegenwärtigte sich eine ganze Reihe solcher gesunder, starker, selbstbewußter Männer, die unwillkürlich schon immer und überall seine neugierige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Er wies diese Gedanken von sich, er gab sich Mühe, in sich die Überzeugung lebendig zu machen, daß er nicht für das irdische, zeitliche Leben, sondern für das ewige Leben lebe und daß in seiner Seele Friede und Liebe wohne. Aber der Gedanke, daß er in diesem zeitlichen, nichtigen Leben, wie ihm schien, einige nichtige Fehler begangen habe, quälte ihn doch so, als wäre jene ewige Erlösung, an die er glaubte, nicht vorhanden. Indessen war diese Anfechtung nicht von langer Dauer, und bald herrschte in Alexei Alexandrowitschs Seele wieder jene edle Ruhe und jene erhabene Anschauungsweise, mit deren Hilfe er das vergessen konnte, woran er sich nicht erinnern mochte.
26
» N un, was gibt's, Kapitonütsch?« sagte der kleine Sergei, als er lustig und mit roten Backen am Tage vor seinem Geburtstag vom Spaziergang zurückkam und sich anschickte, seinen faltenreichen Überzieher dem großgewachsenen alten Pförtner einzuhändigen, der von seiner Höhe lächelnd auf den kleinen Mann herabschaute. »Nun, ist heute wieder der Beamte mit dem Arm in der Binde dagewesen? Hat ihn Papa empfangen?«
»Ja, er hat ihn empfangen. Sobald der Subdirektor weggegangen war, habe ich ihn gemeldet«, antwortete der Pförtner mit vergnügtem Augenzwinkern. »Bitte, ich möchte Ihnen beim Ausziehen behilflich sein.«
»Sergei«, sagte der Hofmeister des Knaben – ein Russe, kein Ausländer –, der in der Tür, die nach den inneren Zimmern führte, stehengeblieben war, »ziehen Sie sich den Überzieher selbst aus.«
Sergei hatte zwar den nur mäßig lauten Zuruf des Hofmeisters gehört, achtete aber nicht darauf. Er blieb stehen, faßte mit der Hand den Schultergurt des Pförtners an und sah ihm ins Gesicht.
»Nun, und hat Papa etwas für ihn getan?«
Der Pförtner nickte bejahend mit dem Kopfe.
Der Beamte mit dem Arm in der Binde, der schon siebenmal gekommen war, um Alexei Alexandrowitsch eine Bitte vorzutragen, beschäftigte auch Sergei und den Pförtner. Sergei hatte ihn einmal auf dem Flur getroffen und gehört, wie er den Pförtner kläglich gebeten hatte, ihn zu melden; er müsse sonst mit seinen Kindern elend umkommen.
Seitdem war Sergeis Teilnahme für den Beamten erregt, dem er nachher noch einmal auf dem Flur begegnet war.
»Nun, und hat er sich sehr gefreut?« fragte er.
»Aber selbstverständlich! Als er wegging, hüpfte er ordentlich vor Freuden.«
»Ist etwas für mich gebracht worden?« fragte Sergei nach einer kleinen Pause.
»Ja, junger Herr«, antwortete der Pförtner flüsternd und nickte mit dem Kopfe, »von der Gräfin ist etwas gekommen.«
Sergei wußte sofort, daß das, wovon der Pförtner sprach, ein Geschenk von der Gräfin Lydia Iwanowna zu seinem Geburtstag sei.
»Was du sagst! Wo ist es?«
»Kornei hat es zum Papa getragen. Es ist gewiß etwas sehr Schönes!«
»Wie groß ist es? So groß?«
»Ein bißchen kleiner; aber schön wird es schon sein.«
»Ein Buch?«
»Nein, ein Spielzeug. Aber nun gehen Sie, gehen Sie, Wasili Lukitsch ruft!« sagte der Pförtner, da er die Schritte des sich nähernden Hofmeisters hörte. Er deutete mit dem Kopf nach Wasili Lukitsch Wunitsch hin und machte behutsam das in dem halb ausgezogenen Handschuh steckende Händchen von seinem Gurt los, an dem es ihn festhielt.
»Wasili Lukitsch, ich komme im Augenblick!« antwortete Sergei mit jenem vergnügten, freundlichen Lächeln, das den pünktlichen Wasili Lukitsch immer besiegte.
Aber Sergei war zu vergnügt und glücklich, als daß er es hätte übers Herz bringen können, seinem Freunde, dem Pförtner, gegenüber von der Freude zu schweigen, von der er auf seinem Spaziergang im Sommergarten durch die Nichte der Gräfin Lydia Iwanowna erfahren hatte. Diese
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