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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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zuckte er mit den Achseln und schloß die Augen, als wollte er sagen, so etwas könne ihm keine Freude machen. Aber die Gräfin Lydia Iwanowna wußte ganz genau, daß dergleichen eine außerordentlich große Freude für ihn war, wenn er es auch niemals eingestand.
     
    »Was macht unser Engel?« fragte die Gräfin Lydia Iwanowna; mit dieser Bezeichnung meinte sie den kleinen Sergei.
     
    »Ich kann nicht sagen, daß ich völlig mit ihm zufrieden wäre«, versetzte Alexei Alexandrowitsch, indem er die Brauen in die Höhe zog und die Augen weit öffnete. »Auch Sitnikow ist mit ihm unzufrieden.« (Sitnikow war der Erzieher, der Sergeis Ausbildung mit Ausnahme des Religionsunterrichtes zu leiten hatte.) »Wie ich Ihnen schon neulich sagte, zeigt er eine gewisse Gleichgültigkeit gerade den wichtigsten Fragen gegenüber, die die Seele eines jeden Menschen und auch eines jeden Kindes beschäftigen müssen«, begann Alexei Alexandrowitsch seine Gedanken über den einzigen Gegenstand, der ihn, abgesehen von der amtlichen Tätigkeit, jetzt noch interessierte, darzulegen.
     
    Nachdem Alexei Alexandrowitsch sich mit Lydia Iwanownas Beihilfe dem Leben und der Tätigkeit von neuem zugewandt hatte, hatte er es als seine Pflicht empfunden, sich mit der Erziehung des in seinen Händen zurückgebliebenen Sohnes zu beschäftigen. Da er sich früher niemals mit Erziehungsfragen abgegeben hatte, so hatte er nun zunächst dem theoretischen Studium des Gegenstandes einen Teil seiner Zeit gewidmet und mehrere Bücher über Anthropologie, Pädagogik und Didaktik durchgearbeitet. Dann hatte er einen Erziehungsplan aufgestellt, dem besten Pädagogen Petersburgs die Leitung der Erziehung des Knaben übertragen und die Aufgabe in Angriff genommen. Und diese Aufgabe beschäftigte ihn nun beständig.
     
    »Ja, aber das Herz? Ich erkenne bei ihm das Herz des Vaters, und mit einem solchen Herzen kann das Kind nicht schlecht sein«, erwiderte Lydia Iwanowna schwärmerisch.
     
    »Mag sein ... Was mich betrifft, so erfülle ich eben meine Pflicht. Das ist alles, was ich tun kann.«
     
    »Kommen Sie heute zu mir«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna nach einem kurzen Stillschweigen, »wir müssen über eine für Sie sehr traurige Angelegenheit sprechen. Ich würde alles darum geben, wenn ich Sie vor gewissen Erinnerungen bewahren könnte; aber andere Leute denken nicht so. Ich habe einen Brief von ihr erhalten. Sie ist hier, in Petersburg.«
     
    Alexei Alexandrowitsch zuckte bei der Erwähnung seiner Frau zusammen; aber im nächsten Augenblick zeigte sich auf seinem Gesicht jener Ausdruck einer leichenhaften Starrheit, der seine völlige Hilflosigkeit in dieser Angelegenheit erkennen ließ.
     
    »Ich habe das erwartet«, sagte er.
     
    Die Gräfin Lydia Iwanowna blickte ihn schwärmerisch an, und Tränen des Entzückens über seine Seelengröße traten ihr in die Augen.
     
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    1 (frz.) Er erweckt Leidenschaften.
     
    2 (frz.) Das ist ein Mensch, der nicht ...
     

25
     
    A ls Alexei Alexandrowitsch das kleine, mit altem Porzellan und Bildnissen geschmückte, gemütliche Arbeitszimmer der Gräfin Lydia Iwanowna betrat, war die Hausfrau selbst noch nicht anwesend. Sie war dabei, sich umzukleiden.
     
    Über den runden Tisch war ein weißes Tuch gebreitet, und darauf stand ein chinesisches Teegeschirr und eine silberne Teemaschine mit Spirituslampe. Alexei Alexandrowitsch blickte zerstreut umher nach den zahllosen ihm wohlbekannten Bildnissen, die das Zimmer schmückten; dann setzte er sich an den Tisch und schlug das dort liegende Neue Testament auf. Das Rascheln des seidenen Kleides der Gräfin ließ ihn das Buch wieder schließen.
     
    »Sehen Sie wohl, nun wollen wir uns recht gemütlich hinsetzen«, sagte sie und schob sich eilig mit lächelndem, aber aufgeregtem Gesicht zwischen den Tisch und das Sofa, »und uns bei unserem Tee miteinander unterhalten.«
     
    Nach einigen vorbereitenden Worten übergab sie ihm, schwer atmend und errötend, den Brief, den sie erhalten hatte.
     
    Nachdem er den Brief gelesen hatte, schwieg er lange.
     
    »Ich glaube nicht, daß ich ein Recht habe, es ihr abzuschlagen«, sagte er dann in schüchternem Ton und blickte auf.
     
    »Mein Freund, Sie sehen in niemandem etwas Böses!«
     
    »Im Gegenteil, ich sehe, daß alles böse ist. Aber ob es gerecht wäre, wenn ich ...«
     
    Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Unentschlossenheit und die Bitte um Rat, Unterstützung und Leitung in dieser Sache, bei der

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