Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
Lehrer gesprochen hatte. ›Aber warum haben sie sich nur alle verabredet, immer auf dieselbe Weise zu reden, immer so langweilige Lehren und Ermahnungen, die man nicht hören mag? Warum stößt er mich von sich zurück, warum hat er mich nicht lieb?‹ fragte er sich betrübt und konnte darauf keine Antwort finden.
27
N ach der Stunde bei dem Lehrer hatte Sergei Unterricht bei seinem Vater. In der Zwischenzeit, bevor dieser kam, setzte sich Sergei an den Tisch, spielte mit seinem Federmesser und hing wieder seinen Gedanken nach. Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war, auf dem Spaziergang nach seiner Mutter zu suchen. An den Tod glaubte er überhaupt nicht, und im besonderen nicht an den Tod seiner Mutter, obgleich Lydia Iwanowna es ihm gesagt und der Vater es bestätigt hatte, und daher suchte er, auch nachdem ihm gesagt war, daß sie gestorben sei, nach ihr auf seinen Spaziergängen. In jeder etwas vollen, anmutigen Frau mit dunklem Haar glaubte er sie zu erkennen. Beim Anblick einer solchen Frau schwoll in seiner Seele ein so gewaltiges Gefühl der Zärtlichkeit an, daß ihm beinah der Atem versagte und ihm die Tränen in die Augen traten. Und er erwartete dann, daß sie im nächsten Augenblick zu ihm herantreten und den Schleier in die Höhe heben werde. Dann werde er ihr ganzes Gesicht sehen können, und sie werde lächeln und ihn umarmen, und er werde den Duft ihres Parfüms riechen, ihre zarten weichen Hände fühlen und glückselige Tränen vergießen, so wie er früher einmal eines Abends sich vor ihre Füße hingelegt hatte, und sie hatte ihn gekitzelt, und er hatte gelacht und sie in die weiße, mit Ringen geschmückte Hand gebissen. Später, nachdem er zufällig von der Kinderfrau gehört hatte, daß seine Mutter nicht gestorben sei, und sein Vater und Lydia Iwanowna ihm erklärt hatten, sie sei für ihn tot, weil sie schlecht geworden sei (was er nun schon gar nicht glauben konnte, weil er sie so sehr liebte), da suchte er genau ebenso weiter nach ihr und wartete auf sie. Heute war im Sommergarten eine Dame mit einem lila Schleier gewesen; die hatte er, während sie sich ihnen auf einer Seitenallee näherte, klopfenden Herzens mit den Augen verfolgt, in der Hoffnung, sie sei es. Aber die Dame war gar nicht bis zu ihnen herangekommen, sondern vorher auf einmal abgebogen und verschwunden. Heute empfand Sergei stärker als je einen Anfall von Sehnsucht nach ihr, und jetzt hatte er, während er auf den Vater wartete, alles um sich vergessend, die ganze Tischkante mit dem Federmesser zerschnitten, blickte mit glänzenden Augen vor sich hin und dachte an sie.
»Der Papa kommt«, sagte Wasili Lukitsch und riß ihn aus seinen Gedanken.
Sergei sprang auf, trat zu seinem Vater und küßte ihm die Hand; darauf blickte er ihn aufmerksam an und suchte in seinem Gesichte nach einem Zeichen von Freude über den Alexander-Newski-Orden.
»War es hübsch auf dem Spaziergange?« fragte Alexei Alexandrowitsch, indem er sich auf seinen Lehnsessel setzte und das Alte Testament zu sich heranzog und aufschlug. Obwohl Alexei Alexandrowitsch wiederholt zu Sergei gesagt hatte, jeder Christ müsse die biblische Geschichte fest innehaben, mußte er selbst, wo es sich um das Alte Testament handelte, häufig im Buche nachsehen, und Sergei hatte das bemerkt.
»Ja, es war sehr lustig, Papa«, antwortete Sergei; er hatte sich auf die Kante des Stuhles gesetzt und schaukelte mit ihm, was verboten war. »Ich habe Nadjenka gesehen.« (Nadjenka war Lydia Iwanownas Nichte und wurde bei ihr erzogen.) »Sie hat mir gesagt, Sie hätten einen neuen Orden bekommen. Freuen Sie sich, Papa?«
»Erstens schaukle, bitte, nicht mit dem Stuhle«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Zweitens sollen wir unsere Freude nicht am Lohne haben, sondern an der Arbeit. Es wäre mir lieb, wenn du das einsähest. Denn wenn du nur deshalb arbeitest und lernst, um eine Belohnung zu erhalten, dann wird dir die Arbeit schwer vorkommen; wenn du aber arbeitest« (dies sagte Alexei Alexandrowitsch in Erinnerung daran, wie er sich durch das Pflichtbewußtsein bei der langweiligen Arbeit des heutigen Vormittags aufrechterhalten hatte; er hatte einhundertundachtzehn Schriftstücke zu unterschreiben gehabt) »aus Liebe zur Arbeit, so wirst du in der Arbeit selbst deinen Lohn finden.«
Sergeis Augen, die soeben noch vor Zärtlichkeit und Heiterkeit gestrahlt hatten, wurden trübe und senkten sich unter dem Blick des Vaters. Das war
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