Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
hatte, daß sie es wagen dürfe.
Warjenka stand in der Tür; sie trug jetzt ein gelbes Kattunkleid, um den Kopf hatte sie ein weißes Tuch gebunden.
»Ich komme, ich komme, Warwara Andrejewna«, sagte Sergei Iwanowitsch, trank den Rest seines Kaffees aus und brachte Taschentuch und Zigarrenbehälter in seinen Taschen unter.
»Was für ein reizendes Mädchen doch meine Warjenka ist! Nicht wahr?« sagte Kitty zu ihrem Manne, sobald Sergei Iwanowitsch aufgestanden war. Sie sagte das so, daß es Sergei Iwanowitsch noch hören konnte, was sie offenbar auch beabsichtigte. »Und wie schön ist sie! So eine vornehme Schönheit! Warjenka!« rief Kitty. »Ihr werdet wohl im Mühlenwald sein? Wir kommen im Wagen nach.«
»Du denkst aber auch gar nicht an deinen Zustand, Kitty«, sagte die alte Fürstin, die eilig durch die Tür trat. »Du darfst nicht so schreien.«
Warjenka, die Kittys Zuruf und den Verweis von ihrer Mutter gehört hatte, trat rasch mit leichten Schritten zu Kitty heran. Die Schnelligkeit ihrer Bewegungen, die Röte, die ihr lebhaft erregtes Gesicht bedeckte, alles wies darauf hin, daß in ihrem Innern etwas Besonderes vorging. Kitty wußte, was das für ein besonderer Vorgang war, und beobachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit. Sie hatte jetzt Warjenka nur in der Absicht angerufen, sie in Gedanken für das wichtige Begebnis zu segnen, das nach Kittys Überzeugung sich heute nachmittag im Walde zutragen mußte.
»Warjenka, ich werde sehr glücklich sein, wenn sich ein Ereignis zuträgt«, flüsterte sie ihr zu und küßte sie.
»Kommen Sie auch mit?« fragte Warjenka verlegen den dabeistehenden Ljewin, indem sie tat, als hätte sie das, was Kitty zu ihr gesagt hatte, nicht gehört.
»Ja, ich komme mit, aber nur bis zur Tenne; da bleibe ich dann.«
»Was hast du denn da vor?« fragte Kitty.
»Ich muß mir die neuen Getreidewagen ansehen und feststellen, ob sie etwas taugen«, erwiderte Ljewin. »Und du, wo wirst du bleiben?«
»Auf der Terrasse.«
2
A uf der Terrasse hatte sich die ganze weibliche Gesellschaft versammelt. Die Damen saßen überhaupt gern dort nach dem Mittagessen; heute aber war dort auch noch eine hauswirtschaftliche Arbeit zu verrichten. Außer dem Nähen von Kinderhemdchen und dem Stricken von Wickelbändern, womit alle beschäftigt waren, wurde dort heute Obst eingekocht, und zwar nach einer Methode, die für Agafja Michailowna etwas Neues war, nämlich ohne Zusatz von Wasser. Kitty hatte diese neue Methode, die in ihrem Elternhause üblich war, einführen wollen, und Agafja Michailowna hatte daher vor einiger Zeit Auftrag erhalten, in dieser Weise zu verfahren. Aber da sie der Ansicht war, das Verfahren, das von jeher im Ljewinschen Hause befolgt werde, könne unmöglich schlecht sein, so hatte sie doch sowohl an die Wald-wie an die Gartenerdbeeren Wasser gegossen und hartnäckig behauptet, es ginge überhaupt nicht anders; sie war dabei ertappt worden, und nun wurden die Himbeeren in Gegenwart aller eingekocht, und Agafja Michailowna sollte zu der Einsicht gebracht werden, daß das Eingemachte auch ohne Wasserzusatz gut geraten könne.
Mit erhitztem Gesicht und gekränkter Miene, mit wirrem Haar, die mageren Arme bis zu den Ellbogen entblößt, schaukelte Agafja Michailowna mit kreisförmiger Bewegung den Kessel über der Kohlenpfanne, blickte finster auf die Himbeeren und wünschte von ganzem Herzen, daß sie zu steif werden und nicht ordentlich kochen möchten. Die Fürstin, die sich sagte, Agafja Michailownas Zorn richte sich gewiß ganz besonders gegen sie als die Hauptanstifterin bei dieser Himbeerkocherei, suchte den Anschein zu erwecken, als sei sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt und denke gar nicht an die Himbeeren; sie sprach von anderem, schielte aber ab und zu nach der Kohlenpfanne.
»Ich kaufe immer für die Dienstmädchen Kleider auf Ausverkäufen«, sagte die Fürstin in Fortsetzung eines begonnenen Gespräches. »Ob es jetzt nicht Zeit wäre, den Schaum abzunehmen, liebe Agafja?« fügte sie, zu dieser gewendet, hinzu. »Du brauchst das gar nicht selbst zu tun, Kitty; es ist zu heiß für dich«, fuhr sie, ihre Tochter zurückhaltend, fort.
»Ich will es machen«, sagte Dolly, stand auf und begann mit einem Löffel vorsichtig durch den schäumenden Zuckersaft zu fahren; ab und zu klopfte sie, um das, was am Löffel haftengeblieben war, loszubekommen, mit ihm gegen einen Teller, der
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