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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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an ihm, und darum lächelte sie.
     
    »Und du? Womit bist du denn unzufrieden?« fragte sie noch einmal mit demselben Lächeln.
     
    Daß sie an seine Unzufriedenheit mit sich selbst nicht recht glauben wollte, freute ihn, und ohne sich dessen selbst bewußt zu sein, forderte er sie dazu heraus, die Ursachen ihres Unglaubens auszusprechen.
     
    »Ich bin glücklich, aber ich bin mit mir selbst unzufrieden ...«, erwiderte er.
     
    »Wie kannst du denn aber unzufrieden sein, wenn du doch glücklich bist?«
     
    »Ja, wie soll ich mich da ausdrücken? ... Ich habe augenblicklich in meinem Herzen nur den einen Wunsch, daß du nicht straucheln möchtest. Ach, aber du darfst doch nicht so springen!« unterbrach er seine Auseinandersetzung durch einen Vorwurf für eine zu schnelle Bewegung, die sie bei einem großen Schritt über einen auf dem Fußwege liegenden Ast gemacht hatte. »Aber wenn ich mich selbst beurteile und mich mit anderen, namentlich mit meinem Bruder, vergleiche, dann fühle ich, daß ich nur geringwertig bin.«
     
    »Aber wieso denn?« fuhr Kitty mit demselben Lächeln fort. »Bist du nicht ebenfalls im Interesse anderer tätig? Und deine Vorwerke, und deine Landwirtschaft, und dein Buch? ...«
     
    »Nein, ich fühle es, und besonders jetzt: du bist schuld daran«, versetzte er und drückte ihren Arm an sich, »daß meine Tätigkeit nicht so ist, wie sie sein sollte. Wenn ich diese ganze Tätigkeit so lieben könnte, wie ich dich liebe ... so aber erledige ich in letzter Zeit das alles wie eine aufgegebene Arbeit.«
     
    »Nun, und was sagst du dann von Papa?« fragte Kitty. »Ist er denn nun auch geringwertig, weil er nichts für das Gemeinwohl getan hat?«
     
    »Der? O nein! Aber dann muß man auch so ein natürliches Wesen, eine solche Klarheit des Urteils, eine solche Herzensgüte besitzen wie dein Vater; und habe ich die etwa? Ich wirke nicht, und das peinigt mich. Alles das hast du angerichtet. Als du noch nicht da warst und das noch nicht da war«, sagte er mit einem Blick auf ihren Leib, den sie verstand, »da verwandte ich alle meine Kräfte auf die Arbeit; aber jetzt vermag ich das nicht, und darüber schäme ich mich; ich arbeite genauso, wie wenn ich ein aufgegebenes Pensum absolvieren müßte; ich verstelle mich ...«
     
    »Nun, und würdest du Lust haben, auf dem Fleck mit Sergei Iwanowitsch zu tauschen?« fragte Kitty. »Möchtest du wie er für das Gemeinwohl tätig sein und dieses aufgegebene Pensum dir zur Herzenssache machen, und damit abgetan?«
     
    »Selbstverständlich nicht«, antwortete Ljewin. »Übrigens bin ich so glücklich, daß meine Denkkraft versagt. Und du glaubst wirklich, daß er ihr heute einen Antrag machen wird?« fügte er nach kurzem Stillschweigen hinzu.
     
    »Ich glaube es und glaube es auch wieder nicht. Aber ich wünsche es von ganzem Herzen. Da, warte mal.« Sie bückte sich und pflückte am Rande des Weges eine wilde Kamille. »Nun zähle mal, ob er einen Antrag macht oder nicht, ja, nein«, sagte sie und reichte ihm die Blume hin.
     
    »Ja, nein, ja, nein«, sagte Ljewin, indem er die schmalen, ausgekehlten, weißen Blättchen abriß.
     
    »Halt, halt!« unterbrach ihn Kitty, die in großer Erregung seine Finger beobachtete, und hielt ihm die Hand fest. »Du hast zwei mit einem Male abgerissen.«
     
    »Na, dafür soll dann dieses kleine hier nicht mitzählen«, erwiderte Ljewin und riß ein kurzes, nicht ausgewachsenes Blättchen ab. »Da hat uns auch der Break schon eingeholt.«
     
    »Bist du nicht müde, Kitty?« rief die Fürstin.
     
    »Nicht im geringsten.«
     
    »Sonst steig doch ein, wenn die Pferde folgsam sind und Schritt gehen können.«
     
    Aber es lohnte nicht mehr einzusteigen, da das Ziel schon ganz nahe war; so gingen sie denn den Rest des Weges alle zu Fuß.
     

4
     
    W arjenka, mit dem weißen Tuch auf dem schwarzen Haar, umringt von den Kindern, mit denen sie sich harmlos und heiter unterhielt, und augenscheinlich erregt durch die Möglichkeit, daß der Mann, der ihr gefiel, ihr einen Antrag mache, bot einen allerliebsten Anblick dar. Sergei Iwanowitsch ging neben ihr und wandte seine bewundernden, warmen Blicke nicht von ihr. Während er sie ansah, erinnerte er sich an all die lieben Reden, die er aus ihrem Munde gehört hatte, und alles, was er Gutes über sie wußte, und kam immer mehr und mehr zu der Erkenntnis, daß das Gefühl, das er für sie empfand, ein ganz besonderes sei, eben jenes, das er vor langer, langer Zeit

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