Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
das?«
»Sieh mal, so!« erwiderte sie, ergriff die Hand ihres Mannes, führte sie an ihren Mund und berührte sie mit geschlossenen Lippen. »Geradeso, wie man einem Bischof die Hand küßt.«
»Bei wem ist denn kein Schwung dahinter?« fragte er lachend.
»Bei beiden nicht. Sieh mal, so müßten sie's machen ...«
»Da fahren Bauern ...«
»Ach was, die haben nichts gesehen.«
6
W ährend die Kinder drinnen ihren Tee tranken, saßen die Erwachsenen auf dem Balkon und unterhielten sich miteinander, als ob nichts vorgefallen wäre, obwohl doch alle und besonders Sergei Iwanowitsch und Warjenka wußten, daß sich etwas sehr Wichtiges, obgleich nur etwas Negatives, zugetragen hatte. Sie hatten beide die gleiche Empfindung, ungefähr die Empfindung eines Schülers, der bei der Prüfung durchgefallen ist und nun in derselben Klasse sitzenbleibt öder für immer von der Anstalt ausgeschlossen wird. Auch alle anderen Anwesenden hatten das Gefühl, daß etwas geschehen war, und sprachen darum mit besonderer Lebhaftigkeit über andersartige Gegenstände. Ljewin und Kitty waren an diesem Abend ganz besonders glücklich und ineinander verliebt. Und daß sie in ihrer Liebe so glücklich waren, empfanden sie als eine peinliche Hindeutung auf die beiden, die ebendasselbe hatten erreichen wollen und nicht hatten erreichen können; und sie waren wegen ihres Glückes beschämt.
»Denkt an das, was ich sage: Alexander wird nicht kommen«, sagte die alte Fürstin.
Es wurde nämlich an diesem Tage mit dem Abendzug Stepan Arkadjewitsch erwartet, und der alte Fürst hatte geschrieben, er würde vielleicht auch mitkommen.
»Und ich weiß auch den Grund, warum er nicht kommt«, fuhr die Fürstin fort. »Er sagt, junge Eheleute müsse man in der ersten Zeit allein lassen.«
»Ja, diese Regel hat Papa gründlich befolgt; noch nicht ein einziges Mal haben wir ihn hier zu sehen bekommen«, klagte Kitty. »Und sind wir denn etwa junge Eheleute? Wir sind doch schon so alte!«
»Es ist nur dies: wenn er nicht kommt, so werde auch ich Abschied von euch nehmen müssen, Kinder«, sagte die Fürstin traurig mit einem Seufzer.
»Aber Mama, was kommt Ihnen an!« riefen die beiden Töchter gleichzeitig vorwurfsvoll.
»Bedenkt doch nur, wie verlassen er sich vorkommen muß. Es ist ja jetzt ...«
Und ganz unerwartet fing die Stimme der alten Fürstin an zu zittern. Die Töchter schwiegen und warfen einander einen Blick zu. ›Maman macht sich doch immer allerlei traurige Gedanken‹, sagten sie einander mit diesem Blick. Sie wußten nicht, daß, wie wohl sich die Fürstin auch bei ihrer Tochter fühlte und wie notwendig sie sich auch hier vorkam, sie doch für ihre eigene Person und auch um ihres Mannes willen recht traurig war, seit sie ihre letzte, liebe Tochter verheiratet hatten und ihr Haus leer geworden war.
»Was möchten Sie, Agafja Michailowna?« fragte Kitty die alte Haushälterin, die mit geheimnisvoller Miene und vielsagendem Gesicht dastand.
»Wegen des Abendessens.«
»Nun, das ist ja ganz schön«, sagte Dolly. »Dann geh du und triff deine Anordnungen, und ich will gehen und mit Grigori seine Aufgaben wiederholen. Er hat sowieso heute noch nichts getan.«
»Aber das ist doch mein Amt! Nein, Dolly, ich gehe«, rief Ljewin und sprang auf.
Grigori, der schon ins Gymnasium eingetreten war, mußte im Sommer seine Aufgaben wiederholen. Darja Alexandrowna hatte schon in Moskau mit ihrem Sohne zusammen Lateinisch gelernt, und jetzt, wo sie bei Ljewins zu Besuch waren, hatte sie es sich zur Regel gemacht, mit ihm wenigstens einmal am Tage die schwierigsten Teile aus dem Rechenunterricht und aus dem Lateinischen zu wiederholen. Ljewin hatte sich erboten, ihr diese Arbeit abzunehmen; aber als die Mutter einmal bei seinem Unterricht zugehört und bemerkt hatte, daß Ljewin es nicht ganz so machte wie der Lehrer in Moskau, da hatte sie ihm, allerdings sehr verlegen und bemüht, ihn nicht zu kränken, aber doch mit aller Entschiedenheit erklärt, man müsse nach dem Buche gehen, genau wie der Lehrer, und sie wolle es lieber wieder selbst übernehmen. Ljewin hatte sich geärgert, sowohl über Stepan Arkadjewitsch, weil dieser, lässig wie er war, die häuslichen Arbeiten seines Sohnes nicht selbst überwachte, so daß es die Mutter tun mußte, die von den betreffenden Unterrichtsgegenständen nichts verstand, wie auch über die Lehrer, weil sie den Kindern
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