Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
gewählt werden. Das darf nicht geschehen. Jetzt aber sind acht Kreise willens, ihn um seine Kandidatur zu ersuchen; wenn nun zwei Kreise es ablehnen, sich an dieser Aufforderung zu beteiligen, so wird Snetkow möglicherweise auf seine Kandidatur verzichten. Und dann wird es der alten Partei vielleicht gelingen, einen anderen ihrer Anhänger durchzubringen, da dann unser ganzer Plan gestört ist. Aber wenn nur der eine Kreis Swijaschskis sich von jener Aufforderung ausschließt, dann wird Snetkow kandidieren. Er wird sogar eine Mehrheit erhalten; denn wir werden ihm absichtlich eine Anzahl von unseren Stimmen zukommen lassen, so daß die Gegenpartei in ihrer Rechnung irre wird und, wenn wir einen der Unsrigen als Kandidaten aufstellen, ihm auch ihrerseits eine Anzahl Stimmen zuwendet.«
Ljewin verstand nun, aber noch nicht ganz, und wollte eben noch einige Fragen stellen, als auf einmal alle zu reden und zu lärmen begannen und in den großen Saal eilten.
»Was ist los? Was? Wen? – Vertrauen sollen wir haben? Zu wem? Wieso? – Er schließt ihn aus? – Wir haben kein Vertrauen zu ihm. – Er will Flerow nicht zulassen. – Was schadet das, daß er sich im Anklagezustand befindet? – Auf die Art könnte er ja jeden ausschließen. Das ist gemein. – Da möchten wir doch mal das Gesetz sehen!« hörte Ljewin von verschiedenen Seiten durcheinanderrufen. Alle strebten eilig vorwärts, als ob sie etwas zu versäumen fürchteten, und mit ihnen begab sich auch Ljewin in den großen Saal und näherte sich mitten in dem dichten Schwarm der Edelleute dem Gouvernementstisch, an dem der Gouvernements-Adelsmarschall, Swijaschski und andere Parteiführer hitzig über etwas stritten.
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1 (lat.) O heilige Einfalt!
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L jewin stand ziemlich entfernt. Ein neben ihm stehender Edelmann, der schwer und mit krächzendem Geräusch atmete, und ein anderer, der mit seinen dicken Stiefelsohlen knarrte, hinderten ihn, deutlich zu hören. Er hörte von weitem nur die weiche Stimme des Adelsmarschalls, dann die kreischende jenes giftigen Edelmanns und darauf Swijaschskis Stimme. Sie stritten, soweit er daraus vernehmen konnte, über den Sinn eines Gesetzesparagraphen und über die Bedeutung der Worte: »gegen den eine gerichtliche Untersuchung eingeleitet ist.«
Die Menge teilte sich, um Sergei Iwanowitsch, der zu dem Tische hingehen wollte, durchzulassen. Sergei Iwanowitsch wartete ab, bis der bissige Edelmann mit dem, was er sagen wollte, fertig war, und sagte dann, seiner Ansicht nach sei es das Sicherste, den Gesetzesparagraphen einzusehen; er ersuche den Sekretär, den Paragraphen aufzuschlagen. Es ergab sich, daß in dem Paragraphen gesagt war, im Falle einer Meinungsverschiedenheit habe Abstimmung durch Ballotage stattzufinden.
Sergei Iwanowitsch las den Paragraphen vor und begann seinen Sinn zu erläutern; aber da unterbrach ihn ein hochgewachsener, dicker Gutsbesitzer mit etwas gekrümmter Haltung, mit gefärbtem Schnurrbart, in einer engen Uniform, auf deren Kragen hinten der überstehende Hals wie auf einer Stütze ruhte. Er trat an den Tisch heran, klopfte mit seinem Siegelring darauf und rief laut:
»Abstimmen! Die Stimmkugeln her! Da ist nichts weiter zu reden! Die Stimmkugeln her!«
Nun fingen auf einmal mehrere gleichzeitig an zu sprechen, und der hochgewachsene Edelmann mit dem Siegelring erboste sich immer mehr und schrie immer lauter. Aber es war nicht mehr zu verstehen, was er sagte.
Er sagte ganz dasselbe, was Sergei Iwanowitsch beantragt hatte; aber augenscheinlich hatte er auf ihn und seine ganze Partei einen Haß, und dieses Gefühl des Hasses teilte sich nun seiner ganzen eigenen Partei mit, und dadurch wurde dann als Gegenwirkung auf der anderen Seite ein gleiches, obwohl in anständigerer Form sich äußerndes Gefühl der Erbitterung hervorgerufen. Es erhob sich ein Geschrei, und eine Minute lang herrschte ein solcher Lärm, daß der Gouvernements-Adelsmarschall um Ruhe bitten mußte.
»Abstimmen, abstimmen! Wer ein Edelmann ist, versteht das auch ohne lange Auseinandersetzungen. – Wir vergießen unser Blut ... – Das Vertrauen des Monarchen ... – Den Adelsmarschall darf man nicht so kontrollieren; er ist doch kein Kommis! – Aber darum handelt es sich gar nicht! – Die Stimmkugeln her! So eine Gemeinheit!« wurde von allen Seiten in Grimm und Wut geschrien. Die Blicke und Gesichter waren noch grimmiger und wütender als die Worte und drückten einen
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