Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
wie sehr er im Unrecht war; sie konnte sich ihm nicht unterordnen.
»Das habe ich nie gesagt; ich habe gesagt, daß diese plötzliche Liebe nicht nach meinem Geschmack ist.«
»Warum sagst du nicht die Wahrheit? Du rühmst dich ja doch immer deiner Aufrichtigkeit.«
»Ich rühme mich niemals und rede niemals die Unwahrheit«, erwiderte er leise, bemüht, den in ihm aufsteigenden Zorn zurückzuhalten. »Es tut mir sehr leid, wenn ich deine Achtung ...«
»Die Achtung hat man nur erfunden, um die leere Stelle zu verbergen, wo die Liebe sein sollte ... Aber wenn du mich nicht mehr liebst, so wäre es besser und ehrlicher, es geradeheraus zu sagen.«
»Nein, das ist nicht mehr auszuhalten!« rief Wronski und stand vom Stuhle auf. Und vor sie hintretend, sagte er langsam: »Warum stellst du meine Geduld so auf die Probe?« Seine Miene ließ erkennen, daß ihm noch manches auf der Zunge lag; aber er beherrschte sich. »Auch meine Geduld hat ihre Grenzen.«
»Was wollen Sie damit sagen?« rief Anna; mit Entsetzen erkannte sie auf seinem ganzen Gesicht und namentlich in den hart und drohend blickenden Augen den unverhohlenen Ausdruck des Hasses.
»Ich will damit sagen ...«, begann er; aber er hielt inne. »Ich möchte nur fragen: was, wollen Sie, soll ich tun?«
»Was kann ich wollen? Ich kann nur wollen, daß Sie mich nicht verlassen, wie Sie es beabsichtigen«, erwiderte sie, da sie alles erriet, was er unausgesprochen gelassen hatte. »Und doch ist dies nicht eigentlich das, was ich will; das steht erst in zweiter Linie. Ich will Liebe, und die ist nicht da. Folglich ist alles zu Ende.«
Sie schritt zur Tür.
»Warte, warte!« rief Wronski; die finstere Falte zwischen seinen Brauen war nicht verschwunden; aber er ergriff Anna bei der Hand und hielt sie zurück. »Was liegt denn eigentlich vor? Ich habe gesagt, die Abreise müsse einen Tag weiter hinausgeschoben werden, als du es in Aussicht genommen hattest, und darauf hast du mir entgegnet, ich löge, ich sei ein unehrenhafter Mensch.«
»Ja, und ich wiederhole es«, erwiderte sie in Erinnerung an die bei dem früheren Streit vorgekommenen Ausdrücke, »wer mir vorhält, daß er mir alles zum Opfer gebracht hat, ist ein herzloser Mensch.«
»Nein, auch die Geduld hat ihre Grenzen!« rief er und ließ rasch ihre Hand los.
›Er haßt mich, das ist klar‹, dachte sie und ging schweigend, ohne sich umzusehen, unsicheren Schrittes aus dem Zimmer. ›Er liebt eine andere; das ist noch klarer‹, sagte sie zu sich selbst, als sie in ihr Zimmer trat. ›Ich will Liebe, und die ist nicht da. Folglich ist alles zu Ende‹, sagte sie noch einmal mit denselben Worten wie vorher, ›und es muß ein Ende gemacht werden.‹
›Aber wie?‹ fragte sie sich und setzte sich in einen Lehnsessel vor dem Spiegel.
Gedanken darüber, wohin sie jetzt gehen solle, ob zu der Tante, bei der sie erzogen worden war, oder zu Dolly, oder ob sie allein ins Ausland reisen solle, und was er wohl in diesem Augenblick allein in seinem Arbeitszimmer tue, und ob dieser Streit den Abschluß gebracht habe oder noch eine Versöhnung möglich sei, und was jetzt wohl alle ihre früheren Petersburger Bekannten von ihr sagen würden, und wie Alexei Alexandrowitsch die Sache ansehen werde, diese und viele andere Gedanken über das, was nun nach dem Bruche geschehen werde, gingen ihr durch den Kopf; aber sie überließ sich diesen Gedanken nicht mit ganzer Seele. In ihrer Seele war noch ein anderer, unklarer Gedanke vorhanden, der einzige, der sie wirklich anzog; aber sie vermochte zunächst nicht recht, ihn sich zum Bewußtsein zu bringen. Als jedoch ihre umherschweifenden Vorstellungen noch einmal zu Alexei Alexandrowitsch zurückkehrten, erinnerte sie sich auch an die Zeit ihrer Krankheit nach der Entbindung und daran, daß ein bestimmtes Gefühl sie damals fortwährend erfüllt hatte. Und nun kamen ihr auch ihre damaligen Worte und ihr damaliges Gefühl ins Gedächtnis zurück: ›Warum bin ich nicht gestorben?‹ Und plötzlich verstand sie den Gedanken, der in ihrer Seele vorhanden war. Ja, das war der Gedanke, der allein die Lösung des Knotens brachte. ›Ja, sterben! ...‹
›Alexei Alexandrowitschs und Sergeis Schmach und Schande und meine eigene entsetzliche Schande, alles wird durch den Tod wiedergutgemacht werden. Wenn ich gestorben bin, dann wird er auch Reue empfinden, er wird mich bemitleiden, mich lieben, sich um mich
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