Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
Vom Netzwerk:
Hanna, die kleine Engländerin, deren sich Anna angenommen hatte, seien physikalische Kenntnisse völlig entbehrlich.
     
    Dadurch hatte sich Anna gekränkt gefühlt. Sie hatte darin eine geringschätzige Hindeutung auf ihre eigene Tätigkeit erblickt. Und sie hatte eine Erwiderung gesucht und ausgesprochen, die ihm eine Strafe für den Schmerz sein sollte, den er ihr zugefügt hatte.
     
    »Ich erwarte nicht«, hatte sie gesagt, »daß Sie mich und meine Empfindungen mit solchem Zartgefühl behandeln, wie es jemand, der wahrhaft liebt, tun würde; aber ich hatte doch die einfachste Höflichkeit erwartet.«
     
    Und er war wirklich vor Ärger rot geworden und hatte irgendeine unfreundliche Antwort gegeben. Sie erinnerte sich nicht mehr, was sie ihm darauf entgegnet hatte, sondern nur, daß er dann, offenbar in der Absicht, ihr gleichfalls weh zu tun, gesagt hatte:
     
    »Ihre besondere Vorliebe für dieses junge Mädchen gefällt mir allerdings nicht; denn nach meiner Anschauung liegt darin etwas Gekünsteltes.«
     
    Diese Grausamkeit, mit der er die kleine Welt zerstörte, die sie sich mit solcher Mühe aufgebaut hatte, um ihr drückendes Leben ertragen zu können, diese Ungerechtigkeit, mit der er sie der Heuchelei und Verstellung beschuldigte, hatten sie in Entrüstung versetzt.
     
    »Ich bedaure lebhaft, daß Ihnen nur das Rohe und Äußere verständlich ist und natürlich erscheint«, hatte sie erwidert und dann das Zimmer verlassen.
     
    Als er gestern abend zu ihr gekommen war, hatten sie des vorhergegangenen Streites keine Erwähnung mehr getan, aber beide gefühlt, daß dieser Streit zwar vorläufig beigelegt, aber nicht völlig erledigt sei.
     
    Heute war er den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen, und in dem Bewußtsein, sich mit ihm veruneinigt zu haben, fühlte sie sich so vereinsamt und bedrückt, daß sie gern alles vergessen und verzeihen und sich mit ihm versöhnen und sich schuldig bekennen und ihn von aller Schuld freisprechen wollte.
     
    ›Ich bin schuld daran‹, sagte sie zu sich. ›Ich bin reizbar, ich bin in sinnloser Weise eifersüchtig. Ich will mich mit ihm versöhnen, und wir wollen auf das Land fahren; da werde ich ruhiger sein.‹
     
    ›Gekünstelt!‹ Sie erinnerte sich auf einmal an den Ausdruck, der ihr bei dem Streit am kränkendsten gewesen war, und zwar hatte sie sich nicht sosehr durch das Wort verletzt gefühlt wie durch die Absicht, ihr weh zu tun, die sie darin voraussetzte. ›Ich weiß, was er damit sagen wollte; er wollte sagen: wenn eine Frau, statt ihre eigene Tochter zu lieben, ein fremdes Kind liebt, so ist das etwas Gekünsteltes. Aber was versteht er denn von der Liebe einer Mutter zu ihren Kindern, von meiner Liebe zu meinem Sergei, den ich um seinetwillen geopfert habe? Und dann diese Absicht, mir weh zu tun! Nein, er liebt eine andere; es kann nicht anders sein.‹
     
    Und als sie zu der Erkenntnis kam, daß, während sie doch danach strebte, ruhiger zu werden, sie dennoch wieder die sooft schon durchlaufene Kreisbahn zurückgelegt hatte und in die frühere gereizte Stimmung wieder hineingeraten war, da erschrak sie über sich selbst. ›Ist es denn wirklich nicht möglich? Kann ich denn wirklich nicht die Schuld auf mich nehmen?‹ fragte sie sich selbst und begann wieder von vorn. ›Er ist wahrheitsliebend, er ist ehrenhaft, er liebt mich. Ich liebe ihn; nächster Tage wird die Scheidung vollzogen werden. Was brauche ich denn noch weiter? Nur Ruhe brauche ich, und Vertrauen muß ich haben, und ich will die Schuld auf mich nehmen. Ja, jetzt gleich, sobald er nach Hause kommt, will ich ihm sagen, daß ich daran schuld war, obgleich ich in Wirklichkeit nicht schuld daran gewesen bin; und dann wollen wir von hier wegfahren.‹
     
    Und um diese Gedanken loszuwerden und nicht wieder in die gereizte Stimmung zu verfallen, klingelte sie und befahl, die Koffer hereinzubringen, um die Sachen zur Rückkehr auf das Gut einzupacken.
     
    Um zehn Uhr kam Wronski nach Hause.
     

24
     
    » N un, hast du dich gut unterhalten?« fragte sie; sie war ihm mit einer sanften Miene, in der die Bitte um Verzeihung lag, ins Vorzimmer entgegengegangen.
     
    »Wie gewöhnlich«, antwortete er und merkte auf den ersten Blick, daß sie sich wieder einmal in guter Stimmung befand. Er war an solche Übergänge bereits gewöhnt und freute sich heute darüber ganz besonders, weil er selbst sehr gut gelaunt war.
     
    »Was sehe ich! Das ist recht!« sagte er, indem er auf die Koffer im

Weitere Kostenlose Bücher