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Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)

Titel: Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Tolstoi
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Freiwilligen gerichtet, daß es sehr erwünscht ist, wenn ein solcher Mann wie Sie sie wieder in der öffentlichen Meinung hebt.«
     
    »Als Kämpfer«, erwiderte Wronski, »besitze ich insofern eine brauchbare Eigenschaft, als das Leben für mich keinen Wert mehr hat. Und daß genug körperliche Kraft in mir steckt, um ein Karree zu sprengen und niederzustampfen oder zu fallen, das weiß ich. Ich freue mich, daß etwas da ist, wofür ich mein Leben hingeben kann, mein Leben, das mir wertlos, ja geradezu zuwider geworden ist. So hat doch wenigstens irgend jemand einen Nutzen davon.« Er machte eine ungeduldige Bewegung mit der Kinnlade wegen des unaufhörlichen dumpfen Zahnschmerzes, der ihn sogar hinderte, mit einer solchen Klangfärbung zu sprechen, wie er es wollte.
     
    »Sie werden wieder zu neuem Leben erwachen, das sage ich Ihnen voraus«, sagte Sergei Iwanowitsch nicht ohne Rührung. »Die Erlösung der Stammesbrüder vom Joche der Knechtschaft ist ein Ziel, das in gleicher Weise wert ist, dafür zu sterben und dafür zu leben. Gott gebe Ihnen äußeren Erfolg und inneren Frieden«, fügte er hinzu und streckte ihm die Hand hin.
     
    Wronski drückte kräftig die Hand, die ihm Sergei Iwanowitsch reichte.
     
    »Ja, als Waffe kann ich noch zu etwas nütze sein; aber als Mensch bin ich eine Ruine«, sagte er stockend.
     
    Der bohrende Schmerz in dem kräftigen Zahn füllte ihm den Mund mit Speichel und hinderte ihn am Sprechen. Er verstummte und betrachtete die Räder des langsam und glatt über die Schienen dahinrollenden Tenders.
     
    Und plötzlich ließ ihn ein ganz anderes Gefühl, nicht ein akuter Schmerz, sondern eine dumpfe, seine ganze Seele erfüllende Qual für einen Augenblick den Zahnschmerz vergessen. Beim Anblick des Tenders und der Schienen und unter der Einwirkung des Gesprächs mit einem Bekannten, mit dem er nach seinem Unglück noch nicht zusammengewesen war, erinnerte er sich plötzlich an sie, an Anna, das heißt an das, was von ihr noch übrig gewesen war, als er wie ein Rasender in den Dienstraum des Bahnhofs gestürzt war: auf einem Tisch in diesem Raum lag ausgestreckt, schmählich den Blicken fremder Leute preisgegeben, der blutige Leib, anscheinend noch erfüllt von dem Leben, das kurz vorher aus ihm entwichen war; der unversehrt gebliebene Kopf mit den schweren Flechten und dem krausen Haar an den Schläfen war nach hinten zurückgesunken, und auf dem reizenden Gesicht mit dem halb geöffneten Mund war ein seltsamer Ausdruck erstarrt, der um die Lippen etwas Mitleiderregendes, in den offen gebliebenen Augen etwas Furchtbares hatte und die entsetzlichen Worte: er werde es bereuen, zu wiederholen schien, die sie ihm bei dem Streit zugerufen hatte.
     
    Und er gab sich Mühe, sich ihr Bild in der Gestalt ins Gedächtnis zurückzurufen, wie er sie zum ersten Male, auch auf einem Bahnhof, gesehen hatte, geheimnisvoll, reizend, liebend, Glück suchend und Glück spendend, nicht grausam und rachsüchtig, wie sie ihm von dem letzten Augenblick her in der Erinnerung war. Er gab sich Mühe, an die schönsten mit ihr verlebten Augenblicke zu denken; aber die Erinnerung an diese Augenblicke war für immer vergiftet. Er erinnerte sich nur an ihre triumphierende Drohung, daß er es bereuen werde; und diese Drohung war in Erfüllung gegangen, und nun war sie da, diese Reue, die niemandem nützte und unauslöschbar in seiner Seele brannte. Er fühlte den Zahnschmerz nicht mehr, und ein unbezwingliches Schluchzen verzerrte sein Gesicht.
     
    Nachdem sie zweimal schweigend an den Säcken hin und her gegangen waren und Wronski seine Fassung wiedergewonnen hatte, wandte er sich in ruhigem Tone an Sergei Iwanowitsch.
     
    »Haben Sie neuere Telegramme nach dem gestrigen erhalten? Sie sind zum dritten Male geschlagen worden; aber für morgen wird die Entscheidungsschlacht erwartet.«
     
    Sie sprachen noch ein Weilchen über Milans Ausrufung zum Könige und über die gewaltigen Folgen, die dieser Schritt haben könne, und trennten sich dann beim zweiten Glockenzeichen, um jeder in seinen Wagen zu steigen.
     

6
     
    D a Sergei Iwanowitsch nicht gewußt hatte, wann es ihm möglich sein werde, von Moskau wegzureisen, so hatte er seinem Bruder nicht telegrafiert, daß er ihn von der Station abholen lassen möchte. Und so war denn Ljewin nicht zu Hause, als Katawasow und Sergei Iwanowitsch in einem Mietwagen, den sie sich auf der Station genommen hatten, von Staub schwarz wie die Mohren, um zwölf Uhr

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