Anna Karenina - Vollständige Ausgabe (German Edition)
suchte vor dem anderen seine Unwissenheit darüber zu verbergen, mit wem denn nun eigentlich für den folgenden Tag eine Schlacht erwartet wurde, da doch der letzten Nachricht zufolge die Türken an allen Punkten geschlagen waren. Und so trennten sich schließlich die beiden, ohne ihre Ansichten ausgesprochen zu haben.
Als Katawasow wieder in seinen Wagen zurückgekehrt war, erzählte er seinem Reisegenossen Sergei Iwanowitsch seine Wahrnehmungen über die Freiwilligen unwillkürlich in gefälschter Färbung, so daß als Ergebnis herauskam, daß es vortreffliche Leute seien.
Auf dem großen Bahnhof der Gouvernementsstadt wurden die Freiwilligen wieder mit Gesang und Hurrarufen begrüßt; wieder erschienen Herren und Damen mit Sammelbüchsen; Damen überreichten den Freiwilligen Blumensträuße und geleiteten sie zum Schanktisch. Aber die Tonart des Ganzen war doch schon erheblich ruhiger und schwächer als in Moskau.
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W ährend des Aufenthalts auf dem Bahnhof der Gouvernementsstadt ging Sergei Iwanowitsch nicht in den Wartesaal, sondern spazierte auf dem Bahnsteig auf und ab.
Als er das erstemal an Wronskis Abteil vorüberkam, bemerkte er, daß der Fenstervorhang zugezogen war. Aber beim zweitenmal erblickte er die alte Gräfin am Fenster. Sie rief ihn zu sich heran.
»Ja, sehen Sie wohl, da reise ich nun und begleite ihn bis Kursk«, sagte sie.
»Ja, ich habe davon gehört«, erwiderte Sergei Iwanowitsch, indem er an ihrem Fenster stehenblieb und hineinsah. »Welch schöne Handlungsweise von ihm!« fügte er hinzu, nachdem er sich überzeugt hatte, daß Wronski nicht im Abteil anwesend war.
»Ja, was sollte er nach seinem Unglück anderes tun?«
»Ein schreckliches Ereignis!« sagte Sergei Iwanowitsch.
»Ach, was ich durchgemacht habe! Aber kommen Sie doch herein ... Ach, was ich durchgemacht habe!« sagte sie noch einmal, als Sergei Iwanowitsch hereingekommen war und neben ihr auf dem Sofa Platz genommen hatte. »Davon kann sich kein Mensch eine Vorstellung machen! Sechs Wochen lang hat er mit niemand geredet, und wenn er etwas essen sollte, mußte ich ihn immer erst flehentlich bitten. Und nicht einen Augenblick durften wir ihn allein lassen. Wir hatten alles entfernt, womit er sich umbringen konnte; wir wohnten im unteren Stock; aber alles konnte man natürlich doch nicht vorhersehen. Sie wissen ja, er hat schon einmal um ihretwillen auf sich geschossen«, sagte sie, und die Augenbrauen der alten Dame zogen sich bei dieser Erinnerung finster zusammen. »Ja, sie hat geendet, wie eine solche Frau eben enden mußte. Selbst die Todesart, die sie sich ausgesucht hat, hatte so etwas Gemeines, Unwürdiges.«
»Es steht uns nicht zu, hier zu richten, Gräfin«, versetzte Sergei Iwanowitsch seufzend. »Aber ich kann verstehen, wie schrecklich das alles für Sie gewesen sein muß.«
»Ach, das läßt sich gar nicht sagen! Ich wohnte auf meinem Gute, und er war gerade bei mir. Da wurde ihm ein Brief gebracht. Er schrieb eine Antwort und sandte sie ab. Wir wußten nicht, daß diese Frau selbst am Bahnhof war. Am Abend hatte ich mich eben in mein Zimmer zurückgezogen, da erzählte mir meine Mary, beim Bahnhof hätte sich eine Dame unter einen Zug geworfen. Das gab mir ordentlich einen Schlag vor den Kopf. Ich wußte sofort: das ist sie gewesen! Das erste, was ich sagte, war: ›Daß ja keiner es ihm sagt!‹ Aber es war ihm bereits mitgeteilt worden. Sein Kutscher war dabei gewesen und hatte alles mit angesehen. Als ich zu ihm ins Zimmer stürzte, war er wie von Sinnen; er bot einen entsetzlichen Anblick. Kein Wort sprach er; er warf sich auf ein Pferd und jagte dorthin. Was dort vorgegangen ist, weiß ich nicht; aber sie brachten ihn mir nach Hause wie einen Toten. Ich hätte ihn gar nicht erkannt. Prostration complète 1 , sagte der Arzt. Dann begann er geradezu zu toben. Ach, ich mag gar nicht davon reden!« sagte die Gräfin mit einer müden, traurigen Handbewegung. »Es war eine furchtbare Zeit. Nein, man mag sagen, was man will, aber sie war eine schlechte Frau. Was war das bei ihr für eine maßlose Leidenschaft! Das soll alles etwas Besonderes vorstellen. Und da ist es denn auch etwas Besonderes geworden; sie hat sich selbst und zwei vortreffliche Menschen zugrunde gerichtet: ihren Mann und meinen unglücklichen Sohn.«
»Was macht denn ihr Mann?« fragte Sergei Iwanowitsch.
»Er hat ihre Tochter zu sich genommen. Mein Sohn war in der ersten Zeit
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