Anna Karenina
sich aufzurichten; sie
schlug auf der Erde zu seinen Füßen um sich wie ein angeschossener Vogel. Durch seine ungeschickte Bewegung hatte
Wronski ihr das Rückgrat gebrochen. Aber zum Verständnis dieses Herganges kam er erst weit später. Jetzt sah er
nur, daß Machotin sich schnell entfernte, er selbst aber taumelnd, allein, auf der schmutzigen, unbeweglichen Erde
dastand und vor ihm, schwer atmend, Frou-Frou lag und, den Kopf zu ihm hin drehend, ihn mit ihrem wundervollen Auge
ansah. Immer noch ohne Verständnis des Geschehenen, riß Wronski die Stute am Zügel. Von neuem machte sie mit dem
ganze Leibe krampfhafte Bewegungen wie ein Fisch, so daß die Sattelflügel knarrten; die Vorderfüße bekam sie frei;
aber nicht imstande, das Hinterteil in die Höhe zu heben, kam sie sofort ins Schwanken und fiel wieder auf die
Seite. Das Gesicht von Leidenschaft ganz entstellt, bleich und mit zitterndem Unterkiefer, stieß Wronski sie mit
dem Stiefelabsatz gegen den Leib und begann von neuem am Zügel zu zerren. Aber sie bewegte sich nicht, drückte die
Nase gegen die Erde und sah nur mit ihrem sprechenden Blicke ihren Herrn an.
»Aaah!« kam es bei Wronski wie ein Gebrüll heraus, und er griff sich an den Kopf. »Aaah! Was habe ich getan!«
schrie er. »Und das Rennen habe ich verloren! Und es ist meine Schuld, meine eigene, schmähliche, unverzeihliche
Schuld! Und dieses unglückliche, liebe, zugrunde gerichtete Pferd! Aaah! Was habe ich getan!«
Eine Menge Zuschauer, auch ein Arzt und ein Heilgehilfe sowie viele Offiziere seines Regiments kamen
herbeigelaufen. Zu seinem Unglück fühlte er, daß er heil und unverletzt war. Das Pferd hatte sich den Rücken
gebrochen und mußte erschossen werden. Wronski war nicht imstande, auf Fragen zu antworten und konnte mit niemandem
sprechen. Er wandte sich ab, und ohne seine Mütze aufzuheben, die ihm vom Kopfe gefallen war, ging er aus der
Rennbahn weg, er wußte selbst nicht, wohin. Er fühlte sich grenzenlos unglücklich. Zum ersten Male in seinem Leben
hatte er ein schweres, schweres Unglück durchzumachen, ein nicht wiedergutzumachendes Unglück und ein Unglück, an
dem er selbst schuld war.
Jaschwin holte ihn mit der Mütze ein, begleitete ihn nach Hause, und nach einer halben Stunde erlangte Wronski
seine Fassung wieder. Aber die Erinnerung an dieses Rennen blieb lange in seiner Seele die drückendste und
quälendste seines Lebens.
26
Alexei Alexandrowitschs äußeres Verhältnis zu seiner Frau war dasselbe geblieben wie vorher. Der einzige
Unterschied bestand darin, daß er durch seine amtliche Tätigkeit noch stärker in Anspruch genommen war als früher.
Wie in den vorhergehenden Jahren war er auch diesmal beim Beginn des Frühjahrs in ein ausländisches Bad gereist, um
seine Gesundheit wiederherzustellen, die durch die von Jahr zu Jahr schlimmer werdende winterliche Arbeit
angegriffen war. Und wie gewöhnlich war er im Juli zurückgekehrt und hatte sich sofort mit doppelter Tatkraft
wieder an seine gewohnte Arbeit gemacht. Und wie gewöhnlich war seine Frau in die Sommerfrische übergesiedelt,
während er in Petersburg geblieben war.
Seit jenem Gespräch nach der Abendgesellschaft bei der Fürstin Twerskaja hatte er mit Anna nie wieder von seinem
Verdachte und von seiner Eifersucht geredet, und sein gewöhnlicher Ton, durch den er andere Menschen nachahmte und
verspottete, paßte in der denkbar besten Weise zu seinem jetzigen Verhältnis zu seiner Frau. Er benahm sich etwas
kühler gegen sie. Es schien, als wäre er nur ein klein wenig unzufrieden mit ihr wegen jenes ersten nächtlichen
Gespräches, das sie abgelehnt hatte. In der Art, wie er mit ihr verkehrte, lag eine leise Spur von Verdrossenheit,
aber nicht mehr. ›Du hast dich mit mir nicht aussprechen wollen‹, sagte er gleichsam in Gedanken zu ihr, ›nun hast
du davon den Schaden. Jetzt wirst du bald kommen und mich bitten; aber dann werde ich auf keine Aussprache mehr
eingehen. Nun, wie du willst!‹ sagte er in Gedanken, wie wenn jemand nach vergeblichen Versuchen, einen Brand zu
löschen, über die Nutzlosigkeit seiner Anstrengungen ärgerlich würde und zu dem brennenden Gegenstande sagte: ›Na,
da hast du's; nun verbrennst du durch deine Schuld!‹
Er, dieser kluge und in dienstlichen Angelegenheiten so scharfsinnige Mann, begriff nicht, wie sinnlos ein
solches Verhältnis zu seiner Frau war. Er begriff das nicht, weil er sich geradezu davor fürchtete, seine
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