Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
jetzige
    Lage zu verstehen, und in seiner Seele den Schubkasten, in dem sich sein Familiensinn befand, das heißt seine
    Gefühle für seine Frau und seinen Sohn, zugemacht, verschlossen und versiegelt hatte. Er, sonst ein so sorgsamer
    Vater, war seit dem Ende dieses Winters sehr kühl gegen seinen Sohn geworden und bediente sich ihm gegenüber
    desselben höhnischen Tones wie seiner Frau gegenüber. ›Nun, junger Mann?‹ pflegte er ihn anzureden.
    Alexei Alexandrowitsch glaubte und sprach das auch aus, daß er noch in keinem Jahre amtlich so viel zu tun
    gehabt habe wie in diesem; aber er gestand sich nicht ein, daß er in diesem Jahre sich allerlei mühsame Geschäfte
    selbst erst aussann und daß dies eines der Mittel war, um jenes Fach nicht öffnen zu müssen, in dem seine Gefühle
    für seine Frau und seinen Sohn und seine Gedanken über diese beiden lagen und ihm, je länger sie dort lagen, um so
    furchtbarer wurden. Hätte jemand das Recht gehabt, Alexei Alexandrowitsch zu fragen, was er über das Betragen
    seiner Frau denke, so würde der sanfte, friedliche Alexei Alexandrowitsch nichts darauf geantwortet haben, wohl
    aber sehr zornig auf den Menschen geworden sein, der eine solche Frage an ihn gerichtet hätte. Aus ebendiesem
    Grunde nahm auch Alexei Alexandrowitschs Gesicht eine Miene stolzer, strenger Ablehnung an, wenn sich jemand bei
    ihm nach dem Befinden seiner Frau erkundigte. Er wollte an das Verhalten und an die Gefühle seiner Frau nicht
    denken und dachte auch wirklich nicht daran.
    Das Landhaus, das Alexei Alexandrowitsch dauernd gemietet hatte, lag in Peterhof, und gewöhnlich verlebte auch
    die Gräfin Lydia Iwanowna den Sommer an demselben Orte, in Annas Nachbarschaft und in beständigem Verkehr mit ihr.
    Aber in diesem Jahre hatte die Gräfin Lydia Iwanowna darauf verzichtet, in Peterhof zu wohnen, war auch nicht ein
    einziges Mal bei Anna Arkadjewna zu Besuch gewesen und hatte Alexei Alexandrowitsch gegenüber auf die
    Unschicklichkeit von Annas engem Verkehr mit Betsy und Wronski andeutend hingewiesen. Alexei Alexandrowitsch hatte
    sie in scharfem Tone unterbrochen, seine Ansicht dahin ausgesprochen, seine Frau stehe über jedem Verdachte, und
    war seitdem einem Zusammentreffen mit der Gräfin Lydia Iwanowna aus dem Wege gegangen. Er wollte nicht sehen und
    sah wirklich nicht, daß in der Gesellschaft bereits viele Leute scheel auf seine Frau blickten; er wollte nicht
    begreifen und begriff wirklich nicht, warum seine Frau mit so besonderem Eifer gewünscht hatte, lieber nach
    Zarskoje Selo überzusiedeln, wo Betsy wohnte und von wo das Lager des Wronskischen Regiments nicht weit entfernt
    war. Er gestattete sich nicht, darüber nachzudenken, und dachte auch wirklich nicht darüber nach; aber obgleich er
    es in seinem tiefsten Innern niemals gegen sich selbst aussprach und keinerlei Beweise, ja nicht einmal
    Verdachtsgründe dafür hatte, war er doch mit zweifelloser Sicherheit davon überzeugt, daß er ein betrogener Ehemann
    war, und war darüber tief unglücklich.
    Wie oft hatte Alexei Alexandrowitsch während seines achtjährigen glücklichen Zusammenlebens mit seiner Frau im
    Hinblick auf fremde treulose Ehefrauen und betrogene Ehemänner bei sich selbst gesagt: ›Wie kann man es nur so weit
    kommen lassen? Wie kann man nur eine so greuliche Lage fortdauern lassen, statt ihr mit starker Hand ein Ende zu
    machen?‹ Aber jetzt, wo dieses Unglück sein eigenes Haupt betroffen hatte, dachte er nicht daran, dieser Lage ein
    Ende zu machen, ja, er wollte sie überhaupt nicht kennen, wollte sie ebendeshalb nicht kennen, weil sie gar zu
    schrecklich, gar zu widernatürlich war.
    Seit seiner Rückkehr aus dem Auslande war Alexei Alexandrowitsch zweimal im Landhause gewesen. Das eine Mal
    hatte er dort zu Mittag gegessen, das andere Mal einen Abend mit Gästen dort verlebt; aber übernachtet hatte er
    dort nie, was er doch in früheren Jahren zu tun gewohnt gewesen war.
    Der Tag des Rennens war für Alexei Alexandrowitsch besonders stark besetzt; er hatte sich schon am Morgen einen
    genauen Tagesplan entworfen und beschlossen, gleich nach einem frühen Mittagessen zu seiner Frau nach dem Landhause
    zu fahren und von dort zum Rennen, für welches das Erscheinen des ganzen Hofes angesagt war und bei dem er daher
    auch anwesend sein mußte. Zu seiner Frau wollte er deswegen heranfahren, weil er sich vorgenommen hatte, sie des
    Anstandes wegen einmal in der Woche zu besuchen. Außerdem mußte

Weitere Kostenlose Bücher