Anna Karenina
Hindernissen nicht zurück und treiben Sie sie nicht an; lassen Sie ihr freie Wahl, es zu machen, wie sie
will.«
»Schön, schön«, antwortete Wronski und faßte die Zügel.
»Wenn es möglich ist, so nehmen Sie die Führung; aber geben Sie bis zum letzten Augenblicke nicht die Hoffnung
auf, selbst wenn Sie hinten sein sollten.«
Das Pferd hatte keine Zeit, sich wegzudrehen, als Wronski schon mit einer gewandten, energischen Bewegung in den
stählernen, gezähnten Steigbügel trat und leicht, aber fest seinen kräftigen Körper auf das knarrende Leder des
Sattels gleiten ließ. Während er den rechten Fuß in den Steigbügel steckte, ordnete er mit den ihm geläufigen
Griffen die doppelten Zügel zwischen den Fingern, und Cord zog die Hände zurück. Als ob sie nicht recht wüßte, mit
welchem Fuße sie zuerst auftreten solle, setzte sich Frou-Frou, mit ihrem langen Halse die Zügel ausziehend, wie
auf Sprungfedern in Bewegung und schaukelte den Reiter auf ihrem geschmeidigen Rücken. Cord folgte ihnen in
beschleunigtem Gange. Das aufgeregte Pferd versuchte bald auf der einen, bald auf der anderen Seite den Reiter zu
täuschen und den Zügel noch weiter auszuziehen, und Wronski bemühte sich vergeblich mit Stimme und Hand, es zu
beruhigen.
Sie waren auf ihrem Wege zum Start bereits zu dem aufgestauten Flüßchen gelangt. Einige von den Reitern waren
Wronski voraus, die übrigen waren hinter ihm zurück, als er plötzlich hinter sich auf dem schmutzigen Wege das
Geräusch eines galoppierenden Pferdes hörte und ihn Machotin auf seinem weißfüßigen, großohrigen Gladiator
überholte. Machotin lächelte, so daß seine langen Zähne sichtbar wurden; aber Wronski warf ihm einen grimmigen
Blick zu. Er konnte den Menschen überhaupt nicht leiden, hielt ihn jetzt für seinen gefährlichsten Gegner und
ärgerte sich über ihn, weil er an ihm vorbeigaloppierte und ihm dadurch seine Frou-Frou in Aufregung versetzte.
Diese warf den linken Fuß zum Galopp in die Höhe, machte zwei Sprünge und ging, unwillig über die straff
angezogenen Zügel, in einen stoßenden Trab über, der den Reiter fortwährend in die Höhe warf. Auch Cord machte ein
finsteres Gesicht und lief fast im Trabe hinter Wronski her.
25
Es beteiligten sich an dem Rennen im ganzen siebzehn Offiziere. Das Rennen sollte auf der großen, vier Werst
langen, elliptischen Bahn vor der Tribüne vor sich gehen. Auf dieser Bahn waren neun Hindernisse angebracht: das
Flüßchen, eine große, anderthalb Meter hohe, feste Hürde unmittelbar vor der Tribüne, ein trockener Graben, ein
Wassergraben, ein doppelter Abhang, ein irischer Wall, der eines der schwierigsten Hindernisse war, bestehend aus
einem mit Reisig besteckten Walle, hinter dem sich noch ein dem Pferde nicht sichtbarer Graben befand, so daß das
Pferd entweder beide Hindernisse überspringen oder stürzen und sich schwer beschädigen mußte; dann noch zwei nasse
Gräben und ein trockener. Das Ende der Bahn war der Tribüne gegenüber. Aber das Rennen begann nicht auf der Bahn
selbst, sondern ungefähr zweihundert Meter seitwärts davon, und auf dieser Strecke befand sich das erste Hindernis:
das aufgestaute Flüßchen in einer Breite von etwas mehr als zwei Metern; dieses konnten die Reiter nach ihrem
Belieben entweder überspringen oder in einer Furt durchreiten.
Dreimal stellten sich die Reiter in gerader Linie auf; aber jedesmal brach das eine oder das andere Pferd
vorzeitig vor, und alle mußten wieder zum Ausgangspunkte zurückreiten. Der Oberst Sestrin, ein erfahrener Starter,
war schon ganz ärgerlich geworden, als er endlich zum vierten Male »Los!« rief und die Reiter sich ordnungsmäßig in
Bewegung setzten.
Alle Augen, alle Operngläser waren auf das bunte Häuflein der Reiter gerichtet, als diese sich in Linie
aufstellten.
»Sie sind gestartet! Sie laufen!« erscholl es nun nach der erwartungsvollen Stille von allen Seiten.
Gruppen von Fußgängern, auch einzelne, begannen von einer Stelle zur anderen zu laufen, um besser sehen zu
können. Gleich im ersten Augenblick zog sich die geschlossene Reiterschar auseinander, und man konnte sehen, wie
sie zu zweien, zu dreien, auch einer hinter dem anderen sich dem Flüßchen näherten. Die Zuschauer hatten den
Eindruck gehabt, daß sie alle zugleich davongaloppiert waren; die Reiter aber waren sich des Sekunden betragenden
Zeitunterschiedes bewußt, der für sie große Wichtigkeit hatte.
Die aufgeregte und
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