Anna Karenina
Machotin und Wronski die große Hürde genommen hatten und darauf der ihnen folgende Offizier an dieser
selben Stelle auf den Kopf stürzte und schwerverletzt besinnungslos liegenblieb und ein dumpfes Gemurmel des
Schreckens durch die ganze Zuschauerschaft ging, da sah Alexei Alexandrowitsch, daß Anna diesen Vorfall gar nicht
einmal bemerkt hatte und nur mit Mühe begriff, wovon um sie herum gesprochen wurde. Aber immer häufiger und
häufiger und mit immer größerer Hartnäckigkeit betrachtete er sie. Obgleich Anna in den Anblick des dahinjagenden
Wronski ganz versunken war, fühlte sie doch den Blick der kalten Augen ihres Mannes von der Seite her auf sich
gerichtet.
Sie sah sich einen Augenblick um, blickte ihn fragend an, zog leicht die Brauen zusammen und wandte sich wieder
von ihm ab.
Es war, als ob sie zu ihm sagte: ›Ach, mir ist alles gleich!‹ Und von nun an blickte sie kein einziges Mal mehr
nach ihm hin.
Es war ein Unglücksrennen: von den siebzehn Reitern stürzten und verletzten sich mehr als die Hälfte. Am
Schlusse des Rennens waren alle Zuschauer in großer Erregung, die noch dadurch erhöht wurde, daß der Kaiser sich
mißfällig geäußert hatte.
Fußnoten
1 (frz.) das Wesen der Sache.
29
Alle sprachen laut ihre Mißbilligung aus; alle wiederholten die von irgend jemand gebrauchte Wendung: ›Nun fehlt
nur noch der Zirkus mit den Löwen‹, und alle waren dermaßen von Entsetzen erfüllt, daß, als Wronski stürzte und
Anna laut aufstöhnte, darin nichts Auffallendes lag. Aber gleich darauf ging auf Annas Gesicht eine Veränderung
vor, die denn doch unbedingt eine Verletzung des Anstandes bildete. Sie war vollständig außer sich; sie bewegte
zuckend die Glieder wie ein ergriffener Vogel; mehrmals wollte sie aufstehen und weggehen, ohne selbst recht zu
wissen, wohin; dann wieder wandte sie sich an Betsy.
»Wir wollen wegfahren, wir wollen wegfahren!« sagte sie.
Aber Betsy hörte nicht nach ihr hin. Sich über die Brüstung der Loge hinabbeugend, sprach sie mit einem General,
der zu ihr herangetreten war.
Alexei Alexandrowitsch ging zu Anna hin und bot ihr höflich seinen Arm.
»Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir gehen«, sagte er auf französisch; aber Anna horchte darauf hin, was der
General sagte, und beachtete ihren Mann gar nicht.
»Wie es heißt, hat er sich ebenfalls das Bein gebrochen«, sagte der General. »Eine ganz unerhörte
Geschichte!«
Anna hob, ohne ihrem Manne zu antworten, das Glas an die Augen und blickte nach der Stelle hin, wo Wronski
gestürzt war; aber die Entfernung war so weit und das Menschengedränge dort so groß, daß sich nichts unterscheiden
ließ. Sie setzte das Glas wieder ab und wollte gehen; aber in diesem Augenblicke galoppierte ein Offizier herbei
und machte dem Kaiser eine Meldung. Anna beugte sich vor, um zu hören.
»Stiwa, Stiwa!« rief sie ihrem Bruder zu.
Aber dieser hörte sie nicht. Wieder wollte sie aus der Loge hinaus.
»Ich biete Ihnen noch einmal meinen Arm an, wenn Sie weggehen wollen«, sagte Alexei Alexandrowitsch, indem er
ihre Hand berührte.
Mit einer Miene des Widerwillens wich sie von ihm zurück und antwortete, ohne ihm ins Gesicht zu sehen:
»Nein, nein, lassen Sie mich nur; ich bleibe hier.«
Sie sah jetzt, daß von dem Orte, wo Wronski gestürzt war, ein Offizier quer durch die Bahn zu der Tribüne eilte.
Betsy winkte ihm mit dem Taschentuche, daß er zu ihr herankommen möchte. Der Offizier brachte die Nachricht, der
Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe sich das Rückgrat gebrochen.
Sobald Anna dies gehört hatte, setzte sie sich schnell wieder hin und verbarg das Gesicht hinter dem Fächer.
Alexei Alexandrowitsch sah, daß sie weinte und nicht imstande war, ihre Tränen zurückzuhalten oder das
Aufschluchzen zu unterdrücken, unter dem sich ihre Brust hob. Er stellte sich als Deckung vor sie hin und wollte
ihr so Zeit geben, die Herrschaft über sich wiederzugewinnen.
»Ich biete Ihnen zum dritten Male meinen Arm an«, sagte er nach einiger Zeit. Anna blickte ihn an und schwankte,
was sie ihm erwidern sollte. Aber die Fürstin Betsy kam ihr zu Hilfe.
»Nein, Alexei Alexandrowitsch, ich habe Anna hergebracht, und ich habe versprochen, sie auch wieder
zurückzubringen«, mischte sie sich ein.
»Verzeihen Sie, Fürstin«, versetzte er; er lächelte höflich, blickte ihr jedoch fest in die Augen. »Aber ich
sehe, daß Anna nicht ganz wohl ist, und möchte daher, daß sie mit mir
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