Anna Karenina
mir gewesen und hat mir eine Stunde Zeit geraubt. Es kommt mir vor,
als hätte ihn einer meiner Freunde zu mir geschickt; so kostbar ist ihnen meine Gesundheit.«
»Und was hat er gesagt?«
Sie fragte ihn allerlei über seine Gesundheit und über seine Tätigkeit und redete ihm zu, sich mehr Erholung zu
gönnen und zu ihr in die Sommerfrische herauszuziehen.
Alles dies sagte sie schnell und in heiterem Tone und mit einem besonderen Glanze in den Augen; aber Alexei
Alexandrowitsch maß diesem Tone jetzt keine Bedeutung bei. Er hörte nur ihre Worte und faßte sie nur in ihrem
natürlichen Sinne auf. Er antwortete ihr ungezwungen, wenn auch in seiner scherzhaften Art. Dieses ganze Gespräch
hatte keine besondere Eigentümlichkeit; aber in der Folgezeit konnte Anna an diese kurze Begebenheit nie ohne ein
schmerzhaftes, peinliches Gefühl der Scham zurückdenken.
Der kleine Sergei kam, von seiner Gouvernante geführt, herein. Hätte Alexei Alexandrowitsch es sich nicht zum
Grundsatz gemacht gehabt, keine Beobachtungen anzustellen, so würde er den scheuen, verlegenen Blick bemerkt haben,
mit dem der Knabe zuerst den Vater und dann die Mutter ansah. Aber er wollte nichts sehen und sah auch wirklich
nichts.
»Ah, junger Mann! Er ist gewachsen. Wahrhaftig, er wird ordentlich schon ein Mann. Guten Tag, junger Mann!«
Er reichte dem erschrockenen Kinde die Hand.
Sergei hatte sich auch früher schon immer dem Vater gegenüber sehr schüchtern benommen; jetzt nun gar, wo Alexei
Alexandrowitsch angefangen hatte, ihn »junger Mann« zu nennen, und wo er die Rätselfrage in seinem Kopfe
herumwälzte, ob Wronski ein Freund oder ein Feind sei, jetzt hatte er sich dem Vater ganz und gar entfremdet. Wie
schutzflehend sah er sich nach der Mutter um. Nur bei der Mutter fühlte er sich wohl. Alexei Alexandrowitsch
knüpfte ein Gespräch mit der Gouvernante an und hielt währenddessen seinen Sohn an der Schulter gefaßt, was diesem
entsetzlich unbehaglich war; Anna sah, daß er nahe daran war, in Tränen auszubrechen.
Als Anna, die bei Sergeis Eintritt errötet war, jetzt bemerkte, wie unbehaglich sich der Knabe fühlte, sprang
sie schnell auf, hob Alexei Alexandrowitschs Hand von der Schulter ihres Sohnes weg, küßte ihren Sohn, führte ihn
auf die Terrasse und kehrte sofort wieder zurück.
»Nun wird es aber Zeit«, bemerkte sie nach einem Blicke auf ihre Uhr. »Warum nur Betsy nicht kommt? ...«
»Ja«, sagte Alexei Alexandrowitsch, indem er aufstand, die Finger durcheinanderschob und knacken ließ. »Ich bin
auch noch deshalb hergekommen, um dir Geld zu bringen, da nach dem Sprichworte auch eine Nachtigall vom bloßen
Singen nicht satt wird. Ich denke, du wirst welches brauchen.«
»Nein, ich brauche noch kein Geld wieder ... oder doch, ja«, antwortete sie, ohne ihn anzusehen, und errötete
dabei bis an die Haarwurzeln. »Aber ich denke, du wirst nach dem Rennen doch noch wieder herkommen?«
»O gewiß!« erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Da ist ja auch die Zierde von Peterhof, die Fürstin Twerskaja«,
fügte er hinzu, als er bei einem Blicke durch das Fenster ein englisches Geschirr mit außerordentlich hoch
angebrachtem, winzigem Wagenkasten bemerkte. »Was für eine Pracht! Entzückend! Nun, dann wollen wir auch
abfahren.«
Die Fürstin Twerskaja stieg nicht aus; nur ihr Lakai in Gamaschen, Pelerine und schwarzem Hut sprang an der
Haustür ab.
»Ich gehe, auf Wiedersehen!« sagte Anna, küßte ihren Sohn, trat zu Alexei Alexandrowitsch hin und reichte ihm
die Hand. »Es war sehr liebenswürdig von dir, daß du hergekommen bist.«
Alexei Alexandrowitsch küßte ihr die Hand.
»Nun, dann auf Wiedersehen! Du kommst also nachher noch einmal, um mit mir Tee zu trinken. Das ist ja prächtig!«
rief sie heiter und strahlend beim Hinausgehen. Aber sobald sie ihn nicht mehr sah, fühlte sie auf ihrer Hand nach
der Stelle, die seine Lippen berührt hatten, und zuckte wie vor Ekel zusammen.
28
Als Alexei Alexandrowitsch beim Rennen erschien, saß Anna bereits auf der Tribüne neben Betsy, in der Loge, wo
sich die ganze höhere Gesellschaft zu versammeln pflegte. Sie erblickte ihren Mann schon von weitem. Zwei Menschen,
ihr Mann und ihr Geliebter, waren für sie die beiden Brennpunkte des Lebens, und ohne Hilfe der äußeren
Sinnesorgane spürte sie deren Nähe. Schon von weitem hatte sie die Annäherung ihres Mannes gefühlt, und sie
verfolgte ihn unwillkürlich mit den Augen in den
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