Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
völlig neue Welt erschloß, die mit ihrer
    Vergangenheit nichts gemein hatte, eine erhabene, schöne Welt, von deren Höhe man mit ruhigem Gemüte auf diese
    Vergangenheit hinblicken konnte. Es erschloß sich ihr die Erkenntnis, daß es außer dem triebmäßigen Leben, dem sie
    sich bisher hingegeben hatte, auch ein geistiges Leben gebe. Dieses Leben erschloß sich ihr in der Religion, aber
    in einer Religion, die nichts gemein hatte mit der, die ihr von Kindheit an bekannt war und ihren Ausdruck darin
    fand, daß man die Mittagsmesse besuchte und den Abendgottesdienst im Witwenhause, wo man sich mit seinen Bekannten
    treffen konnte, und daß man beim Geistlichen Bibelstellen in altslawischer Sprache auswendig lernte. Dies war im
    Gegensatze dazu eine erhabene, geheimnisvolle Religion, die mit einer ganzen Reihe schöner Gedanken und Gefühle
    verknüpft war, eine Religion, an die man nicht nur glauben konnte, weil es befohlen war, sondern die man auch
    lieben konnte.
    Kitty lernte dies alles nicht aus Worten. Madame Stahl sprach mit ihr wie mit einem lieben Kinde, auf das man
    mit Freude hinblickt wie auf eine Erinnerung an die eigene Jugendzeit, und deutete nur einmal darauf hin, daß bei
    allem menschlichen Leide nur Liebe und Glaube Trost gewähren und daß Christus mit jedem menschlichen Kummer, auch
    mit dem nichtigsten, Mitleid habe; aber dann lenkte sie sofort das Gespräch auf ein anderes Gebiet. Aber Kitty
    lernte aus jeder ihrer Bewegungen, aus jedem ihrer Worte, aus jedem ihrer, wie Kitty sie nannte, himmlischen Blicke
    und namentlich aus ihrer ganzen Lebensgeschichte, die sie durch Warjenka erfuhr, aus alledem lernte sie, was das
    Wichtige war, das sie bis dahin nicht gekannt hatte.
    Aber wie edel auch Frau Stahls Charakter war, wie rührend ihre ganze Lebensgeschichte, wie hochsinnig und
    zärtlich ihre Worte, so nahm Kitty doch an ihr auch einzelne Züge wahr, die sie befremdeten. Sie bemerkte, daß, als
    sie von Madame Stahl nach ihren Angehörigen befragt wurde und Auskunft gab, diese geringschätzig lächelte, was doch
    der christlichen Liebe zuwiderlief. Ferner bemerkte sie, als sie einmal Madame Stahl in ihrer Wohnung im Gespräch
    mit einem katholischen Priester antraf, daß diese geflissentlich ihr Gesicht im Schatten des Lampenschirmes hielt
    und in eigentümlicher Weise lächelte. So unbedeutend diese beiden Beobachtungen auch waren, so machten sie Kitty
    doch ganz betroffen und ließen in ihr Zweifel über Frau Stahl aufsteigen. Warjenka dagegen, die so einsam dastand,
    ohne Verwandte, ohne Freunde, mit einer traurigen Enttäuschung im Herzen, Warjenka, die sich nichts wünschte, über
    nichts klagte, die war für Kitty jenes schlechthin vollkommene Wesen, von dem sie sich bisher nur in ihrer
    Einbildungskraft ein Bild geschaffen hatte. An Warjenka hatte sie einsehen gelernt, daß man nur sich selbst zu
    vergessen und andere zu lieben brauche, um ruhig, glücklich und gut zu sein. Und so zu sein, war Kittys Streben.
    Nachdem Kitty jetzt erkannt hatte, was jenes Wichtigste war, begnügte sie sich nicht damit, begeistert dafür zu
    schwärmen, sondern sie gab sich sofort mit ganzer Seele diesem neuen Leben hin, das sich vor ihr aufgetan hatte.
    Auf Grund von Warjenkas Mitteilungen über das viele Gute, was Madame Stahl und andere von ihr mit Namen genannte
    Frauen wirkten, arbeitete Kitty sich schon jetzt einen Plan für ihr künftiges Leben aus. Sie wollte, ebenso wie
    Frau Stahls Nichte Aline, von der ihr Warjenka viel erzählt hatte, wo auch immer sie ihren Wohnsitz haben würde,
    die Unglücklichen aufsuchen, ihnen helfen soviel als nur irgend möglich, Neue Testamente verteilen, den Kranken,
    den Verbrechern und den Sterben den aus den Evangelien vorlesen. Der Gedanke, Verbrechern das Evangelium
    vorzulesen, wie dies Aline tat, hatte für Kitty etwas besonders Reizvolles. Aber alles dies waren geheime
    Zukunftsträumereien, über die Kitty weder mit ihrer Mutter noch mit Warjenka sprach.
    Übrigens fand Kitty in Erwartung der Zeit, da sie ihre Pläne würde in größerem Maßstabe zur Ausführung bringen
    können, auch bereits jetzt in diesem Badeorte, wo es so viele Kranke und Unglückliche gab, mühelos mancherlei
    Gelegenheit, ihre neuen Lebensgrundsätze in die Tat umzusetzen und so ihrer Freundin Warjenka nachzueifern.
    Anfangs bemerkte die Fürstin nur, daß Kitty sich unter dem starken Einflusse ihres engouement, wie sie es
    nannte, für Frau Stahl und besonders für Warjenka

Weitere Kostenlose Bücher