Anna Karenina
wollen
uns noch einmal hinsetzen«, sagte Kitty und zog sie neben sich auf die Bank nieder. »Sagen Sie mir doch, ist es
Ihnen nicht kränkend, denken zu müssen, daß ein Mann Ihre Liebe verschmäht hat, Ihre Liebe nicht hat haben
mögen?«
»Aber er hat sie ja gar nicht verschmäht; ich glaube, daß er mich wirklich geliebt hat; aber er war ein
gehorsamer Sohn ...«
»Das mag sein; aber wenn er es nun nicht auf den Wunsch seiner Mutter getan hätte, sondern einfach nach seinem
eigenen Willen?« sagte Kitty und wurde sich bewußt, daß sie ihr Geheimnis verraten hatte und ihr vor Schamröte
erglühendes Gesicht sie überführte.
»Dann hätte er schlecht gehandelt, und ich würde mich um ihn nicht grämen«, antwortete Warjenka, die offenbar
durchschaute, daß es sich jetzt nicht mehr um sie, sondern um Kitty handelte.
»Aber die Kränkung?« sagte Kitty. »Die Kränkung kann man doch nicht vergessen, die kann man nicht vergessen.«
Sie dachte an ihren Blick auf dem letzten Balle in dem Augenblick, da die Musik plötzlich aufgehört hatte.
»Worin liegt denn die Kränkung? Sie haben doch nicht schlecht gehandelt?«
»Schlimmer als schlecht – so daß ich mich schämen muß.«
Warjenka wiegte den Kopf hin und her und legte ihre Hand auf Kittys Arm.
»Schämen? Worüber?« fragte sie. »Sie werden doch einem Mann, dem Sie gleichgültig waren, nicht gesagt haben, daß
Sie ihn liebten?«
»Selbstverständlich nicht; ich habe nie auch nur ein Wort gesagt; aber er wußte es doch. Aus Blicken, aus dem
ganzen Benehmen. Nein, nein, und wenn ich hundert Jahre alt werde, kann ich es nicht vergessen.«
»Was meinen Sie denn eigentlich? Ich verstehe Sie nicht. Es kommt doch nur darauf an, ob Sie ihn jetzt noch
lieben oder nicht«, sagte Warjenka, die alles beim richtigen Namen nannte.
»Ich hasse ihn; ich kann mir selbst nicht verzeihen.«
»Was können Sie sich denn nicht verzeihen?«
»Daß ich mir eine solche Beschämung, eine solche Kränkung zugezogen habe.«
»Ach, wenn alle so empfindlich sein wollten wie Sie«, erwiderte Warjenka. »Es gibt kein Mädchen, das nicht hätte
so etwas durchmachen müssen. Und all das ist doch so unwichtig.«
»Ja, was ist denn dann aber wichtig?« fragte Kitty und blickte ihr mit neugieriger Verwunderung ins Gesicht.
»Ach, es gibt viel Wichtiges«, versetzte Warjenka lächelnd.
»Nun, was denn?«
»Ach, es gibt vieles, was weit wichtiger ist«, antwortete Warjenka, wußte aber nicht recht, was sie sagen
sollte. Aber in diesem Augenblicke hörten sie aus dem Fenster die Stimme der Fürstin:
»Kitty, es wird kühl! Nimm ein Tuch um oder komm ins Zimmer!«
»Es ist wirklich Zeit, daß ich gehe«, sagte Warjenka und stand auf. »Ich muß auch noch zu Madame Berthe gehen;
sie hat mich darum gebeten.«
Kitty hielt ihre Hand gefaßt, und ihr stummer Blick fragte bittend mit leidenschaftlicher Neugier: ›Was ist es
denn, was ist denn dieses Wichtigste, das einem solche Ruhe des Gemütes verleiht? Sie wissen es; sagen Sie mir es
doch!‹ Aber Warjenka verstand gar nicht, wonach Kittys Blick sie fragte. Sie dachte nur daran, daß sie heute noch
Madame Berthe besuchen und sich so einrichten müsse, daß sie rechtzeitig um zwölf Uhr zu Hause bei maman zum Tee
sei. Sie ging ins Zimmer, nahm ihre Noten, verabschiedete sich von allen und schickte sich an zu gehen.
»Erlauben Sie, ich werde Sie begleiten«, sagte der Oberst.
»Gewiß, Sie können doch jetzt bei Nacht nicht allein gehen«, stimmte ihm die Fürstin zu. »Oder wenigstens möchte
ich meine Parascha mit Ihnen mitschicken.«
Kitty sah, daß Warjenka nur mit Mühe ein Lächeln unterdrückte, als sie hörte, daß man für sie eine Begleitung
als notwendig erachtete.
»Nicht doch; ich gehe immer allein, und es ist mir noch nie etwas zugestoßen«, sagte sie und griff nach ihrem
Hute. Sie küßte Kitty noch einmal, und ohne gesagt zu haben, was denn nun jenes Wichtige sei, verschwand sie
festen, flinken Schrittes, mit den Noten unter dem Arm, in dem Halbdunkel der Sommernacht und nahm ihr Geheimnis
mit sich, was das Wichtige sei, dem sie diese beneidenswerte Ruhe und Würde zu verdanken hatte.
33
Kitty wurde auch mit Frau Stahl bekannt, und diese Bekanntschaft, im Verein mit der Freundschaft zu Warjenka,
übte nicht nur einen starken Einfluß auf ihre Lebensanschauungen aus, sondern tröstete sie auch in ihrem Kummer.
Sie fand diesen Trost darin, daß sich ihr, dank dieser Bekanntschaft, eine
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