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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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veranlassen könnten; sie dachte
    an die Anhänglichkeit des jüngsten Knaben, der sie ›meine Kitty‹ nannte und ohne sie nicht schlafen gehen wollte.
    Wie schön das alles gewesen war! Dann vergegenwärtigte sie sich Petrows entsetzlich abgemagerte Gestalt, mit dem
    langen Halse, in dem braunen Oberrocke, sein spärliches, gelocktes Haar, seine fragenden blauen Augen, die ihr in
    der ersten Zeit so schrecklich gewesen waren, und seine peinlichen Anstrengungen, in ihrer Gegenwart frisch und
    munter zu erscheinen. Sie erinnerte sich, wie schwer es ihr anfangs geworden war, den Widerwillen zu überwinden,
    den sie gegen ihn wie gegen alle Schwindsüchtigen empfand, und wie sie sich bemüht hatte, einen Stoff zu ersinnen,
    über den sie mit ihm reden könnte. Sie dachte auch an die schüchternen, gerührten Blicke, mit denen er sie
    anzusehen pflegte, und an ihre seltsame, aus Mitleid und Unbehaglichkeit gemischte Empfindung, und wie sie dann bei
    dieser Tätigkeit sich ihrer eigenen Tugendhaftigkeit bewußt gewesen war. Wie schön war das alles gewesen! Aber
    alles nur in der ersten Zeit. Jetzt seit einigen Tagen war alles plötzlich zunichte geworden. Anna Pawlowna benahm
    sich gegen sie mit gekünstelter Liebenswürdigkeit und ließ sie und ihren Mann keinen Augenblick unbeobachtet.
    Sollte vielleicht seine rührende Freude, sooft er sie sah, die Ursache zu Anna Pawlownas kühlem Verhalten
    sein?
    ›Ja‹, sagte sich Kitty, in ihren Erinnerungen herumsuchend, ›Anna Pawlowna hatte in ihrem Wesen etwas
    Unnatürliches, was gar nicht zu ihrer Herzensgüte stimmte, als sie vorgestern ganz ärgerlich sagte: »Da hat er nun
    die ganze Zeit auf Sie gewartet und hat nicht wollen Kaffee trinken, ehe Sie nicht da wären, obgleich er darüber
    ganz schwach geworden ist.« – Ja, vielleicht war es ihr auch nicht recht, als ich ihm neulich das Umschlagtuch
    reichte. Das war doch etwas so Unbedeutendes, Gleichgültiges; aber er nahm das in einer so ungeschickten Weise auf
    und bedankte sich so lange dafür, daß auch ich ganz verlegen wurde. Und dann die Geschichte mit meinem Bild, das
    ihm so gut gelungen war. Und besonders seine verwirrten, zärtlichen Blicke! ... Ja, ja, es ist so!‹ dachte Kitty
    entsetzt. ›Aber nein, das kann, das darf nicht sein! Er ist so bejammernswert!‹ sagte sie bei sich.
    Dieser Zweifel verdarb ihr die Freude an ihrer neuen Lebenseinrichtung.
Fußnoten
    1 (frz.) Man soll niemals etwas
    übertreiben.

34
    Noch vor dem eigentlichen Ende seiner Kurzeit kehrte Fürst Schtscherbazki zu den Seinigen zurück. Nach dem
    Kuraufenthalte in Karlsbad hatte er noch in Baden und Kissingen russische Bekannte besucht, um, wie er sich
    ausdrückte, einmal wieder russischen Duft zu riechen.
    Die Ansichten des Fürsten und der Fürstin über das Leben im Auslande standen zueinander in schroffstem
    Gegensatze. Die Fürstin fand draußen alles schön und herrlich, und obwohl sie in der russischen Gesellschaft eine
    fest begründete Stellung hatte, bemühte sie sich im Ausland, einer europäischen Dame zu gleichen (was sie eben
    nicht war, da sie doch Russin war und blieb), und verstellte sich daher, was ihr zum Teil recht unbequem wurde. Der
    Fürst dagegen fand im Ausland alles greulich, das europäische Leben war ihm widerwärtig, er blieb seinen russischen
    Gewohnheiten treu und bemühte sich im Auslande absichtlich, sich noch weniger europafreundlich zu zeigen, als er es
    in Wirklichkeit war.
    Der Fürst kehrte magerer zurück, die Haut an seinen Backen hing sackartig herunter; aber er befand sich in
    höchst vergnügter Stimmung. Seine vergnügte Stimmung steigerte sich noch mehr, als er sah, daß Kitty vollständig
    wiederhergestellt war. Die Nachricht von Kittys Freundschaft mit Frau Stahl und Warjenka und die Mitteilungen der
    Fürstin über die von ihr beobachtete Veränderung, die mit Kitty vorgegangen war, machten den Fürsten allerdings
    stutzig und erregten bei ihm das gewöhnliche Gefühl der Eifersucht gegen alles, wofür sich seine Tochter außer ihm
    interessierte, und die Befürchtung, die Tochter könnte sich auf ein ihm unzugängliches Gebiet begeben und sich so
    seinem Einflusse entziehen. Aber diese unangenehmen Nachrichten gingen unter in dem Meere jener Gutmütigkeit und
    Heiterkeit, die in seinem Wesen lag und durch die Karlsbader Kur noch zugenommen hatte.
    Am Tage nach seiner Ankunft ging der Fürst in seinem langen Überrock, mit seinen russischen Runzeln und seinen
    schwammigen

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