Anna Karenina
befand. Sie sah, daß Kitty ihre bewunderte Warjenka nicht nur in
deren Tätigkeit nachahmte, sondern diese Nachahmung sich unwillkürlich auch auf deren Art zu gehen, zu sprechen und
mit den Augen zu blinzeln erstreckte. Aber später nahm die Fürstin wahr, daß sich bei ihrer Tochter, unabhängig von
dieser Bezauberung, eine ernste seelische Umwandlung vollzog.
Die Fürstin sah, daß Kitty abends oft in einem französischen Neuen Testamente las, das ihr von Frau Stahl
geschenkt worden war, während sie doch früher dergleichen nie getan hatte; daß sie ihre Bekannten aus den
vornehmeren Kreisen mied und mit den Kranken umging, die sich unter Warjenkas Pflege befanden, und namentlich mit
der armen Familie eines kranken Malers Petrow. Kitty war augenscheinlich stolz darauf, daß sie bei dieser Familie
die Pflichten einer barmherzigen Schwester erfüllte. Alles dies war ganz schön und gut, und die Fürstin hatte
nichts dagegen, um so weniger, da Frau Petrowa eine durchaus anständige Frau war und die deutsche Fürstin, der
Kittys Tätigkeit bekannt geworden war, sie gelobt und einen Engel des Trostes genannt hatte. Es wäre alles sehr
schön gewesen, wenn dabei keine Übertreibung stattgefunden hätte; aber die Fürstin Schtscherbazkaja sah, daß ihre
Tochter in Übertreibung hineingeriet, und sprach sich darüber auch zu ihr aus.
»Il ne faut jamais rien outrer 1 «, sagte sie zu
ihr.
Aber die Tochter gab ihr keine Antwort; sie dachte nur in ihrem Herzen, daß man von einem Übermaß im
christlichen Handeln doch nicht reden könne. Was für ein Übermaß sei denn möglich bei der Befolgung einer Lehre,
die befehle, die andere Backe hinzuhalten, wenn man auf die eine einen Schlag erhalte, und auch den Rock
hinzugeben, wenn einem der Mantel genommen werde? Der Fürstin aber mißfiel diese Übertreibung, und noch mehr
mißfiel es ihr, daß, wie ihr nicht entging, Kitty nicht ihr ganzes Herz vor ihr auf schließen mochte. Denn in der
Tat machte Kitty aus ihren neuen Ansichten und Gefühlen der Mutter gegenüber ein Geheimnis. Und sie tat das nicht
etwa, weil sie ihre Mutter nicht verehrt und geliebt hätte, sondern lediglich deshalb, weil das eben ihre Mutter
war. Sie hätte von dieser ihrer neuen Gemütsrichtung jedem andern eher Kenntnis gegeben als gerade der Mutter.
»Ich wundere mich, daß Anna Pawlowna schon so lange nicht bei uns gewesen ist«, sagte eines Tages die Fürstin
(Anna Pawlowna war Frau Petrowas Name). »Ich habe sie aufgefordert; aber ich hatte den Eindruck, als ob sie uns
etwas übelgenommen hätte.«
»Ich habe nichts bemerkt, maman«, antwortete Kitty; aber sie war dunkelrot geworden.
»Bist du in letzter Zeit bei ihnen gewesen?«
»Wir haben vor, morgen eine Spazierfahrt in die Berge zu machen«, erwiderte Kitty.
»Nun schön, tut das!« antwortete die Fürstin; sie blickte der Tochter in das verlegene Gesicht und bemühte sich,
die Ursache dieser Verwirrung zu erraten.
An demselben Tage kam Warjenka zum Mittagessen und brachte die Mitteilung, Anna Pawlowna habe den Gedanken,
morgen in die Berge zu fahren, wieder aufgegeben. Die Fürstin bemerkte, daß Kitty wieder errötete.
»Kitty, hast du vielleicht irgendwelche Mißhelligkeit mit Petrows gehabt?« fragte die Fürstin, als sie beide
wieder allein waren. »Warum schickt sie ihre Kinder nicht mehr her und kommt auch selbst nicht mehr zu uns?«
Kitty erwiderte, es sei zwischen ihnen nichts vorgefallen, und sie könne durchaus nicht begreifen, warum Anna
Pawlowna, wie es allerdings scheine, auf sie böse sein sollte. Kittys Antwort entsprach durchaus der Wahrheit. Sie
kannte den Grund für Anna Pawlownas verändertes Benehmen ihr gegenüber nicht, aber allerdings ahnte sie ihn. Sie
ahnte etwas, was sie der Mutter nicht sagen konnte, ja was sie nicht einmal sich selbst eingestehen mochte. Es war
eine von den Sachen, die man zwar zu wissen glaubt, über die man aber nicht einmal mit sich selbst deutlich reden
mag; so schrecklich und beschämend wäre es, wenn man sich geirrt hätte.
Wieder und wieder ging sie in ihrer Erinnerung alle ihre Beziehungen zu dieser Familie durch. Sie gedachte der
unverstellten Freude, die sich immer auf Anna Pawlownas rundem, gutmütigem Gesichte gemalt hatte, sooft sie
einander trafen; sie gedachte ihrer geheimen Beratungen über den Kranken, der Verabredungen darüber, wie sie ihn
von der ihm ärztlich verbotenen Arbeit abhalten und ihn zu fleißigem Spazierengehen
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