Anna Karenina
vorhanden.«
»Ich habe es ja versucht«, antwortete Ljewin leise und widerwillig. »Aber ich kann es nicht. Was soll ich da
machen!«
»Aber was kannst du denn nicht? Ich muß gestehen, daß ich das nicht begreife. Gleichgültigkeit oder
Verständnislosigkeit sind ja doch bei dir ausgeschlossen; ist es wirklich nur Trägheit von dir?«
»Weder das erste noch das zweite noch das dritte. Ich habe es versucht und habe eingesehen, daß ich dabei nichts
zu leisten vermag«, erwiderte Ljewin.
Er hörte ohne rechte Aufmerksamkeit, was sein Bruder sagte. Er blickte über den Fluß hinüber nach dem Ackerlande
und bemerkte da etwas Schwarzes, konnte aber nicht erkennen, ob es nur ein Pferd oder der Verwalter zu Pferde
sei.
»Warum vermagst du denn nichts zu leisten? Du hast einen Versuch gemacht und deiner Ansicht nach kein Glück
damit gehabt, und nun hast du gleich die Flinte ins Korn geworfen. Wie kann man nur so wenig Ehrgeiz haben?«
»Ehrgeiz«, versetzte Ljewin, bei dem dieses Wort einen wunden Punkt getroffen hatte, »was hier der Ehrgeiz soll,
verstehe ich nicht! Hätte man mir auf der Universität gesagt, daß andere die Integralrechnung verständen und ich
sie nicht verstände, da wäre der Ehrgeiz in Frage gekommen. Hier aber muß man doch zunächst die Überzeugung haben,
daß man die für diese Tätigkeit erforderlichen Fähigkeiten besitzt, und namentlich, daß diese ganze Tätigkeit
wirklich so wichtig ist.«
»Na, sag mal! Ist denn das etwa nicht wichtig?« rief Sergei Iwanowitsch, etwas verstimmt darüber, daß sein
Bruder etwas, wofür er selbst sich interessierte, unwichtig fand, und ganz besonders darüber, daß der Bruder ihm
offenbar fast gar nicht zuhörte.
»Mir scheint es nicht wichtig, und mich interessiert es nicht; also was verlangst du da weiter von mir?«
antwortete Ljewin. Er hatte unterdessen erkannt, daß das, was er in der Ferne sah, der Verwalter war und daß der
Verwalter wahrscheinlich die Bauern vom Pflügen entließ, da sie ihre Hakenpflüge umstürzten. ›Sollten sie wirklich
schon mit dem Pflügen fertig sein?‹ dachte er.
»Na, aber so höre doch zu!« sagte der ältere Bruder und verzog mißmutig sein schönes, kluges Gesicht. »Es muß
doch alles seine Grenzen haben. Es ist ja sehr schön, ein Original zu sein und die Aufrichtigkeit zu lieben und
alle Falschheit zu hassen – das weiß ich alles sehr wohl, aber das, was du da sagst, hat entweder gar keinen Sinn,
oder es hat einen sehr schlimmen Sinn. Wie kannst du es für unwichtig erachten, daß das Landvolk, das du deiner
Versicherung nach liebst ...«
›Das habe ich nie versichert‹, dachte Konstantin Ljewin.
»... ohne Hilfe dahinstirbt? Rohe, unwissende Bauernweiber, die als Geburtshelferinnen dienen, martern die
Kinder zu Tode, und das Volk verharrt in tiefster Unwissenheit und ist der Willkür jedes Schreibers preisgegeben;
dir aber ist das Mittel, dem abzuhelfen, in die Hand gelegt, und doch schaffst du keine Abhilfe, weil das alles
deiner Meinung nach nicht wichtig ist.«
Und Sergei Iwanowitsch stellte ihm die Wahl: »Entweder bist du so wenig intelligent, daß du nicht zu beurteilen
vermagst, was du alles leisten kannst, oder du bist nicht geneigt, deine Bequemlichkeit, deinen Stolz oder ich weiß
nicht, was sonst noch dranzugehen, um dies zu leisten.«
Konstantin Ljewin fühlte, daß ihm nichts übrigblieb als entweder zu Kreuze zu kriechen oder sich zu einem Mangel
an Interesse für das Gemeinwohl zu bekennen. Und das kränkte und ärgerte ihn.
»Es trifft sowohl das eine wie das andere zu«, sagte er in entschlossenem Tone. »Ich sehe keine Möglichkeit
...«
»Wie? Ist es denn unmöglich, bei vernünftiger Verwendung der verfügbaren Geldmittel dem Landvolke ärztliche
Beihilfe zugänglich zu machen?«
»Meines Erachtens ist das unmöglich ... Unser Kreis umfaßt viertausend Quadratwerst, und bei der Beschaffenheit
unserer Wege zur Zeit der Schneeschmelze, bei unseren Schneestürmen, bei unserer Arbeitszeit sehe ich keine
Möglichkeit, an jeder Stelle ärztliche Hilfe darzubieten. Und ich habe auch überhaupt kein Vertrauen zur
medizinischen Wissenschaft.«
»Na, erlaube mal, das ist aber doch ungerecht ... Ich könnte dir Tausende von Beispielen anführen ... Nun, und
die Schulen?«
»Wozu brauchen wir Schulen?«
»Was redest du da? Kann etwa ein Zweifel an dem Nutzen der Bildung bestehen? Wenn sie für dich gut und nützlich
ist, so ist sie es auch für
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