Anna Karenina
seinem Bruder, und die Zuneigung, die er gegen diesen Menschen
empfand, rief auf seinem Gesicht unwillkürlich ein freundliches Lächeln hervor. Als der Alte dann wieder aufstand,
sein Gebet verrichtete und sich gleich an derselben Stelle unter dem Busche niederlegte, wobei er einen Haufen Gras
als Kopfkissen benutzte, da legte sich Ljewin gleichfalls hin, und trotz der lästigen Fliegen und Käfer, die bei
dem hellen Sonnenschein besonders zudringlich waren und ihn an dem schweißbedeckten Gesicht und am übrigen Körper
kitzelten, schlief er sofort ein und erwachte erst, als die Sonne nach der anderen Seite des Busches herumgegangen
war und ihn mit ihren Strahlen traf. Der Alte schlief schon längst nicht mehr; er saß aufrecht da und dengelte die
Sensen der jüngeren Leute.
Ljewin blickte rings um sich und erkannte den Ort gar nicht wieder; so sehr hatte sich alles verändert. Die
gewaltige Fläche der Wiese war abgemäht und schimmerte mit ihren bereits stark duftenden Schwaden geschnittenen
Grases, von den schrägen Strahlen der Abendsonne beleuchtet, in einem eigentümlichen neuen Glanze. Die durch das
Mähen freigelegten Büsche am Flusse und der Fluß selbst, der vorher nicht sichtbar gewesen war, aber jetzt wie
Stahl in seinen Krümmungen glänzte, und die Mäher, die sich wieder regten und aufstanden, und die steile Graswand
an dem noch nicht gemähten Teile der Wiese, und die Habichte, die über der kahlen Wiese kreisten: alles das bot ein
ganz neues Bild dar. Als Ljewin seine Gedanken wieder gesammelt hatte, begann er zu überlegen, wieviel bereits
gemäht sei und wieviel an diesem Tage noch geschafft werden könne.
Die geleistete Arbeit war für zweiundvierzig Mann außerordentlich groß. Die ganze große Wiese, an der früher zur
Zeit der Fronarbeit dreißig Sensen zwei Tage lang gemäht hatten, war schon abgemäht; ungemäht waren nur die Ecken
mit kurzen Reihen übrig. Aber Ljewin hatte den dringenden Wunsch, daß an diesem Tage möglichst viel gemäht werden
möchte, und ärgerte sich über die Sonne, die sich so schnell hinabsenkte. Er verspürte keine Müdigkeit; er wünschte
nur, daß noch recht schnell recht viel geschafft werden möchte.
»Nun, wie denkst du darüber? Mähen wir noch die Maschkin-Höhe?« fragte er den Alten.
»Wie Gott will; hoch steht die Sonne ja nicht mehr. Du gibst doch wohl den Leuten ein Schnäpschen?«
Während des Vesperbrotes, als die Mäher sich wieder hingesetzt und die Raucher zu rauchen angefangen hatten,
verkündete der Alte den Leuten: »Wenn die Maschkin-Höhe noch fertiggemäht wird, gibt's Schnaps.«
»Nanu! Warum sollten wir die nicht fertigkriegen? Los, Tit! Das schaffen wir schnell! Essen können wir noch in
der Nacht. Los!« riefen sie durcheinander, und während die Mäher noch ihr Brot zu Ende kauten, traten sie schon
wieder an.
»Na, Kinder, haltet euch dran!« rief Tit und mähte fast im Trabe als erster los.
»Zu! Zu!« rief der Alte, der eilig hinter ihm herschritt und ihn mühelos einholte. »Nimm dich in acht, ich werde
dich schneiden!«
Jung und alt mähte um die Wette. Aber obgleich sie so eilten, verdarben sie doch das Gras nicht, und die
Schwaden wurden ebenso sauber und ordentlich hingelegt wie vorher. Die letzte noch übrige Ecke wurde in fünf
Minuten erledigt. Die letzten Mäher gingen noch in ihren Reihen, als die vordersten schon ihre Röcke über die
Schultern nahmen und über den Weg hinüber nach der Maschkin-Höhe wanderten.
Die Sonne senkte sich schon zu den Bäumen herab, als sie mit ihren klappernden Wetzsteinköchern in die kleine
Waldschlucht bei der Maschkin-Höhe kamen. Das Gras reichte ihnen in der Mitte der Schlucht bis an den Gürtel; es
war zart und weich und breithalmig, stellenweise im Walde bunt durchwachsen von Stiefmütterchen.
Nach kurzer Beratung, ob man beim Mähen längs oder quer gehen solle, nahm Prochor Jermilin, gleichfalls ein
berühmter Mäher, ein riesenhafter, schwarzhaariger Bauer, die Spitze. Er schritt eine Reihe ab, kehrte dann wieder
um und mähte ein Stückchen rein, und nun ordneten sich alle hinter ihm in langer Linie; jeder ging zuerst in der
Schlucht bergab und stieg dann drüben allmählich den Berg hinan bis an den Saum des Waldes. Die Sonne sank schon
hinter den Wald hinab, und es fiel bereits Tau. Nur auf der Höhe waren die Mäher noch in der Sonne; unten hingegen,
wo schon die Dünste aufstiegen, und auf der andern Seite gingen sie im frischen,
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