Anna Karenina
ich dagegen der Ansicht bin, daß jeder Mensch, der auf einer gewissen
Bildungsstufe steht, Interesse für das Gemeinwohl haben muß. Vielleicht hast du darin recht, daß eine durch ein
materielles Interesse hervorgerufene Tätigkeit wünschenswerter wäre. Im allgemeinen aber bist du deinem ganzen
Wesen nach zu sehr prime-sautier 1 , wie die Franzosen
sagen: du willst eine leidenschaftliche, kraftvolle Tätigkeit oder gar keine.«
Ljewin hörte seinem Bruder zu, verstand aber gar nichts und wollte auch nichts verstehen. Er fürchtete nur, der
Bruder könnte eine Frage an ihn richten, bei der sich dann herausstellen würde, daß er gar nicht aufgepaßt
habe.
»Ja, so ist das, mein lieber Konstantin«, sagte Sergei Iwanowitsch und klopfte ihm auf die Schulter.
»Ja, gewiß, selbstverständlich. Ich bin ja nicht auf meine Ansicht versessen«, antwortete Ljewin mit dem Lächeln
eines schuldbewußten Kindes. ›Worüber hatten wir eigentlich miteinander gestritten?‹ dachte er. ›Natürlich, ich
habe recht, und er hat auch recht, und alles ist in schönster Ordnung.‹ Und laut fuhr er fort: »Ich muß nur noch
ins Kontor gehen und allerlei anordnen.« Er stand auf, reckte sich und lächelte.
Sergei Iwanowitsch lächelte gleichfalls.
»Wenn du noch ein bißchen spazierengehen willst, so können wir ja zusammen gehn«, sagte er; denn das
Zusammensein mit seinem Bruder, von dem ordentlich ein Hauch von Frische und Tatkraft ausging, machte ihm wirklich
Freude. »Komm; wir können ja auch noch zum Kontor gehen, wenn du dahin mußt.«
»Ach, Herrgott!« rief Ljewin so laut, daß Sergei Iwanowitsch erschrocken zusammenfuhr.
»Was hast du, was hast du denn?«
»Was macht denn Agafja Michailownas Hand?« fragte Ljewin und schlug sich gegen die Stirn. »Die hatte ich ja ganz
und gar vergessen!«
»Sie ist bedeutend besser.«
»Na, ich will aber doch einmal zu ihr hinlaufen. Ehe du unten deinen Hut aufgesetzt hast, bin ich wieder
da.«
Seine Stiefelabsätze schlugen, als er die Treppe hinunterstürmte, so schnell an die Stufen, daß es wie eine
Klapper klang.
Fußnoten
1 (frz.) naturwüchsig, impulsiv.
7
Während Stepan Arkadjewitsch nach Petersburg gereist war, um eine ganz selbstverständliche, allen Beamten
bekannte, wiewohl den Nichtbeamten unverständliche, unerläßliche Pflicht zu erfüllen, ohne deren Erfüllung man
überhaupt nicht Beamter sein kann – nämlich sich im Ministerium in Erinnerung zu bringen –, und während er zur
Erfüllung dieser Pflicht fast alles im Hause vorhandene Geld mitgenommen hatte und die Zeit lustig und vergnügt bei
Pferderennen und mit Besuchen in den Landhäusern verbrachte: unterdessen war Dolly mit den Kindern aufs Land
übergesiedelt, um die Ausgaben nach Möglichkeit zu verringern. Sie war nach dem Gute Jerguschowo gezogen, das sie
bei ihrer Verheiratung als Mitgift bekommen hatte, nach ebendem Gute, wo im Frühjahr der Wald verkauft worden war;
es lag von Ljewins Gut Pokrowskoje ungefähr fünfzig Werst entfernt.
In Jerguschowo war das große alte Herrenhaus schon seit langer Zeit völlig verfallen, und schon Dollys Vater
hatte zum Ersatz ein Nebengebäude vergrößern und einrichten lassen. Dieses Nebengebäude war vor zwanzig Jahren, als
Dolly noch ein Kind war, für die Familie geräumig genug und ganz behaglich gewesen, wenn es auch wie alle
Nebengebäude der Anfahrtsallee und dem Süden seine Flanke zukehrte. Aber jetzt war dieses Nebengebäude alt und
muffig. Schon als Stepan Arkadjewitsch im Frühjahr wegen des Waldverkaufs nach dem Gute gefahren war, hatte ihn
Dolly gebeten, das Haus nachzusehen und die erforderlichen Ausbesserungen anzuordnen. Stepan Arkadjewitsch, der,
wie alle schuldbewußten Ehemänner, sehr um die Bequemlichkeit seiner Frau besorgt war, hatte das Haus selbst
besichtigt und alles, was nach seiner Ansicht nötig war, angeordnet. Nach seiner Auffassung mußten die sämtlichen
Möbel mit Kretonne überzogen, Gardinen aufgehängt, der Garten gesäubert, Blumen darin gepflanzt und über den Teich
eine kleine Brücke gebaut werden; aber er vergaß viele andere notwendige Dinge, deren Mangel Darja Alexandrowna
nachher sehr schmerzlich empfand.
Obgleich sich Stepan Arkadjewitsch die größte Mühe gab, ein sorglicher Vater und Gatte zu sein, so vermochte er
doch schlechterdings nicht den Gedanken festzuhalten, daß er eine Frau und Kinder habe. Er hatte die Neigungen
eines Junggesellen und richtete sich in seinem
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