Anna Karenina
hierher gekommen?«
»Das ist ja unerheblich«, antwortete sie und legte ihre Hand in seinen Arm. »Laß uns gehen; ich muß mit dir
sprechen.«
Er merkte, daß etwas vorgefallen sein mußte und daß dieses Zusammensein kein freudiges sein werde. Sobald er bei
ihr war, hatte er keinen eigenen Willen; ohne den Grund ihrer Aufregung zu kennen, fühlte er bereits, daß sich
dieselbe Aufregung unwillkürlich auch ihm mitteilte.
»Was gibt es denn? So sprich doch!« bat er; er drückte mit dem Ellbogen ihren Arm und versuchte, ihr die
Gedanken vom Gesichte abzulesen.
Schweigend ging sie noch einige Schritte, um Mut zu sammeln; dann blieb sie plötzlich stehen.
»Ich habe dir gestern nicht gesagt«, begann sie, schnell und mühsam atmend, »daß ich, als ich mit Alexei
Alexandrowitsch nach Hause zurückfuhr, ihm alles mitgeteilt habe; ... ich habe ihm gesagt, daß ich nicht länger
seine Gattin sein kann und daß ... Ich habe ihm alles gesagt.«
Er hörte ihr zu und neigte sich dabei unwillkürlich mit dem ganzen Oberkörper zu ihr herunter, als wollte er ihr
dadurch das Drückende ihrer Lage erleichtern. Aber sobald sie das gesagt hatte, richtete er sich plötzlich auf, und
sein Gesicht nahm einen stolzen, festen Ausdruck an.
»Ja, ja, das ist das beste, bei weitem das beste!« rief er. »Ich verstehe, wie schwer dir das werden mußte.«
Aber sie hörte nicht auf seine Worte, sie suchte seine Gedanken an dem Ausdruck seines Gesichtes zu erkennen. Sie
konnte nicht wissen, daß dieser Ausdruck seines Gesichtes mit dem ersten Gedanken zusammenhing, der ihm bei ihrer
Mitteilung gekommen war, mit dem Gedanken, daß jetzt ein Duell unausbleiblich sei. Ihr selbst war der Gedanke an
ein Duell überhaupt nie in den Sinn gekommen, und daher faßte sie diesen augenblicklichen Ausdruck strengen Ernstes
ganz anders auf.
Schon nachdem sie den Brief ihres Mannes erhalten hatte, war sie im tiefsten Grunde der Seele überzeugt gewesen,
daß alles beim alten bleiben werde, daß sie nicht die Kraft haben werde, ihre gesellschaftliche Stellung einfach
aufzugeben, auf ihren Sohn zu verzichten und mit ihrem Liebhaber zusammen zu leben. Bei dem Besuche, den sie am
Vormittag der Fürstin Twerskaja gemacht hatte, war diese innere Überzeugung bei ihr noch fester geworden. Aber eine
Zusammenkunft mit Wronski war ihr trotzdem außerordentlich wichtig erschienen. Sie hatte gehofft, diese
Zusammenkunft würde in seiner und ihrer Lage eine Änderung herbeiführen und ihr Rettung bringen. Wenn er bei dieser
Mitteilung entschlossen, leidenschaftlich und, ohne einen Augenblick zu schwanken, zu ihr sagte: »Laß alles im
Stich und geh mit mir davon!« dann war sie willens, ihren Sohn zu verlassen und ihm zu folgen. Aber nun hatte diese
Mitteilung nicht so gewirkt, wie sie es erwartet hatte; vielmehr hatte Anna nur den Eindruck, daß er sich durch
irgend etwas verletzt fühle.
»Schwer ist es mir keineswegs geworden. Es machte sich ganz von selbst«, sagte sie in gereiztem Tone, »und hier
...« Sie holte den Brief ihres Mannes aus dem Handschuh hervor.
»Ich verstehe, ich verstehe«, unterbrach er sie und nahm den Brief hin; aber er las ihn nicht, da er vor allem
sie zu beruhigen wünschte. »Das war das einzige, das ich wünschte, um das ich dich bat, daß du diese Fesseln
zerreißen möchtest, damit ich mein Leben ganz deinem Glücke weihen kann.«
»Warum sagst du mir das?« erwiderte sie. »Kann ich denn daran zweifeln? Wenn ich daran zweifelte ...«
»Wer kommt da?« sagte Wronski plötzlich und wies auf zwei Damen, die ihnen entgegenkamen. »Vielleicht kennen sie
uns!« Er bog schnell, sie mit sich ziehend, in einen Seitenweg ein.
»Ach, mir ist alles gleich!« versetzte sie. Ihre Lippen zitterten, und es kam ihm vor, als ob ihn ihre Augen
durch den Schleier mit seltsamem Ingrimm anblickten. »Also ich wollte sagen: darum handelt es sich nicht; daran
kann ich ja nicht zweifeln. Aber sieh nur, was er mir schreibt. Lies doch!« Sie blieb wieder stehen.
Wieder, ganz wie im ersten Augenblicke bei der Nachricht, daß sie mit ihrem Manne gebrochen habe, gab sich
Wronski beim Lesen des Briefes unwillkürlich jener natürlichen Vorstellung hin, die sein Verhältnis zu dem
beleidigten Gatten bei ihm erweckte. Während er jetzt seinen Brief in der Hand hielt, sagte er sich, daß er
wahrscheinlich heute oder morgen in seiner Wohnung die Forderung vorfinden werde, und stellte sich das Duell vor,
bei dem er mit
Weitere Kostenlose Bücher