Anna Karenina
regeln.
Sie ging ein paarmal im Salon auf und ab und begab sich dann entschlossen zu ihm. Als sie in sein Arbeitszimmer
trat, saß er in seiner Dienstuniform, augenscheinlich zur Abfahrt bereit, an einem kleinen Tische, auf den er die
Ellbogen stützte, und blickte trübe vor sich hin. Sie sah ihn früher als er sie, und sie sagte sich, daß er an sie
dachte.
Als er sie erblickte, wollte er zunächst aufstehen, besann sich aber dann eines anderen. Hierauf wurde er
dunkelrot, was Anna früher nie an ihm gesehen hatte, stand nun schnell auf und ging ihr entgegen, wobei er ihr
nicht in die Augen blickte, sondern höher hinauf, auf die Stirn und das Haar. Er trat zu ihr, ergriff ihre Hand und
bat sie, sich zu setzen.
»Ich freue mich sehr, daß Sie gekommen sind«, sagte er, indem er neben ihr Platz nahm; er wollte offenbar noch
weiden, aber er stockte. Mehrmals wollte er zu sprechen anfangen, hielt aber immer wieder inne. Sie hatte zwar, als
sie sich auf diese Zusammenkunft vorbereitete, sich absichtlich in der Anschauung befestigt, daß er ein
verächtlicher Mensch sei und allein die Schuld trage; aber jetzt wußte sie doch nicht, was sie zu ihm sagen sollte,
und er tat ihr leid. So dauerte das Schweigen ziemlich lange. »Ist Sergei gesund?« fragte er und fügte, ohne die
Antwort abzuwarten, hinzu: »Ich werde heute nicht zum Mittagessen hier sein und muß gleich wegfahren.«
»Ich wollte nach Moskau fahren«, bemerkte sie.
»Nein, Sie haben sehr, sehr gut daran getan, daß Sie hierhergekommen sind«, sagte er und verstummte wieder.
Da sie sah, daß er nicht imstande war, die Auseinandersetzung zu beginnen, so fing sie selbst an.
»Alexei Alexandrowitsch«, sagte sie, indem sie ihn anblickte und die Augen nicht vor seinem auf ihre Frisur
gerichteten Blicke niederschlug, »ich habe mich vergangen, ich bin ein schlechtes Weib; aber ich bin noch dieselbe,
die ich war, dieselbe, als die ich mich damals Ihnen zu erkennen gegeben habe, und ich bin hergekommen, um Ihnen zu
sagen, daß ich daran nichts ändern kann.«
»Ich habe Sie nicht danach gefragt«, versetzte er und schaute ihr plötzlich mit festem, haßerfülltem Blicke
gerade in die Augen. »Ich habe das auch vorausgesetzt.« Der Zorn verhalf ihm offenbar wieder zum Vollbesitz seiner
geistigen Fähigkeiten. »Aber was ich Ihnen damals gesagt und nachher geschrieben habe«, fuhr er mit seiner
scharfen, hohen Stimme fort, »das wiederhole ich Ihnen jetzt: ich bin nicht verpflichtet, dies zu wissen. Ich
ignoriere es. Nicht alle Gattinnen haben wie Sie die Güte, so eilig ihren Ehemännern eine so angenehme Mitteilung zu machen.« Er legte einen besonderen Nachdruck auf das Wort angenehm. »Ich werde es so lange
ignorieren, wie die Welt nichts davon weiß, so lange, wie mein Name nicht befleckt ist. Und darum beschränke ich
mich darauf, Ihnen mitzuteilen, daß unsere Beziehungen dieselben bleiben müssen, die sie immer gewesen sind, und
daß ich nur in dem Falle, wenn Sie sich bloßstellen sollten, genötigt sein werde, die erforderlichen
Maßregeln zu ergreifen, um meine Ehre zu schützen.«
»Aber unsere Beziehungen können nicht von derselben Art sein wie bisher«, begann Anna zaghaft und blickte ihn
erschrocken an.
Als sie wieder diese ruhigen Handbewegungen sah und diese durchdringende, kindlich hohe, spöttische Stimme
hörte, da verschwand ihr früheres Mitleid vor dem Widerwillen gegen ihn; jetzt fürchtete sie sich nur vor ihm; aber
sie wollte um jeden Preis eine Klärung ihrer Lage herbeiführen.
»Ich kann nicht Ihre Gattin sein, wenn ich ...«, begann sie. Er brach in ein grimmiges, kaltes Lachen aus.
»Die Lebensweise, die Sie sich erwählt haben, muß wohl auf Ihr ganzes Denken zurückgewirkt haben. Ich achte so
sehr das, was Sie früher waren, und ich verachte so sehr das, was Sie jetzt sind, daß mir die Deutung, die Sie
meinen Worten beilegen, ganz fern lag.«
Anna seufzte und ließ den Kopf sinken.
»Übrigens«, fuhr er, hitziger werdend, fort, »das ist mir nicht verständlich: wenn Sie einen so großen
Unabhängigkeitssinn besitzen und Ihrem Gatten geradezu von Ihrer Untreue Mitteilung machen und in Ihrem Verhalten
anscheinend gar nichts Unpassendes finden, wie können Sie dann die Erfüllung der Pflichten, die die Gattin dem
Manne gegenüber hat, für unpassend halten?«
»Alexei Alexandrowitsch, was verlangen Sie von mir?«
»Ich verlange, daß dieser Mensch sich hier nicht blicken läßt; ich
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