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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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die vor ihm bereitliegenden Papiere. Unter diesen Papieren befanden sich auch die erforderlichen
    Unterlagen und eine skizzenartige Gliederung der Rede, die er zu halten gedachte. Übrigens hatte er diese
    Unterlagen eigentlich gar nicht nötig. Er hatte alles im Kopfe und hielt es nicht für notwendig, sich das, was er
    sagen wollte, vorher noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Er wußte, daß, wenn der Augenblick da sein und er
    das Gesicht seines Gegners vor sich sehen werde, der vergeblich bemüht sein werde, eine gleichmütige Miene zu
    machen, daß dann seine Rede ganz von selbst besser dahinströmen werde, als wenn er sich jetzt noch so sehr
    vorbereitete. Er war sich bewußt, daß der Inhalt seiner Rede so gewaltig und wuchtig war, daß jedes Wort ein
    Keulenschlag sein werde. Indessen machte er, während er den üblichen Bericht mit anhörte, die allerunschuldigste,
    harmloseste Miene. Seine weißen, von hervortretenden Adern überzogenen Hände tasteten mit den langen Fingern sanft
    an den beiden Rändern des vor ihm liegenden weißen Papierbogens umher; den Kopf hielt er mit einem Ausdruck von
    Müdigkeit zur Seite geneigt; niemand, der ihn so sah, hätte gedacht, daß seinem Munde im nächsten Augenblick Worte
    entströmen würden, die einen furchtbaren Sturm hervorrufen, die Mitglieder zu laut herausgeschrienen, einander
    unterbrechenden Erwiderungen veranlassen und den Vorsitzenden zwingen würden, zur Beobachtung der ordnungsmäßigen
    Formen zu mahnen. Als der Bericht beendet war, erklärte Alexei Alexandrowitsch mit seiner leisen, hohen Stimme, er
    habe einige Erwägungen in Sachen der Verwaltungseinrichtungen der Fremdvölker vorzutragen. Die Aufmerksamkeit aller
    Anwesenden wandte sich ihm zu. Alexei Alexandrowitsch räusperte sich und begann seine Gedanken darzulegen; dabei
    blickte er nicht seinen Gegner an, sondern wählte sich dazu, wie er es immer beim Vortrage seiner Reden tat, die
    erste vor ihm sitzende Person aus, einen kleinen, friedlichen alten Mann, der niemals in der Kommission eine eigene
    Meinung hatte. Als er das organische Grundgesetz erwähnte, sprang sein Gegner in die Höhe und begann zu
    widersprechen. Stremow, der gleichfalls Mitglied der Kommission war und sich gleichfalls empfindlich gekränkt
    fühlte, suchte sich zu rechtfertigen, und die Sitzung nahm überhaupt einen sehr stürmischen Charakter an; aber
    Alexei Alexandrowitsch triumphierte als Sieger, sein Vorschlag wurde angenommen, es wurden drei neue Kommissionen
    ernannt, und am andern Tage war in gewissen Petersburger Kreisen von nichts anderem als von dieser Sitzung die
    Rede. Alexei Alexandrowitschs Erfolg war sogar größer, als er es selbst erwartet hatte.
    Am andern Morgen, am Dienstag, erinnerte sich Alexei Alexandrowitsch, sowie er aufgewacht war, mit Vergnügen an
    seinen gestrigen Sieg, und obgleich er sich Mühe gab, gleichmütig zu erscheinen, konnte er doch ein Lächeln nicht
    unterdrücken, als der Subdirektor in dem Wunsche, ihm etwas Schmeichelhaftes zu sagen, ihm von den Gerüchten
    Mitteilung machte, die ihm über die Vorgänge in der Kommission zu Ohren gekommen seien.
    Über den Besprechungen mit dem Subdirektor hatte Alexei Alexandrowitsch vollständig vergessen, daß heute
    Dienstag war, der Tag, den er für Anna Arkadjewnas Übersiedlung angesetzt hatte, und er war erstaunt und unangenehm
    überrascht, als der Diener kam und ihm ihre Ankunft meldete.
    Anna war früh am Vormittag in Petersburg angekommen; auf ein Telegramm von ihr war der Wagen hinausgeschickt
    worden, um sie zu holen, und sie hatte daher angenommen, daß Alexei Alexandrowitsch ihre Ankunft erwarte. Aber als
    sie ankam, empfing er sie nicht. Es wurde ihr gesagt, er sei noch nicht aus seinem Zimmer herausgekommen und
    arbeite mit dem Subdirektor. Sie befahl, ihrem Manne zu melden, daß sie angekommen sei, ging in ihr Zimmer und
    beschäftigte sich mit dem Einräumen ihrer Sachen, in der Erwartung, daß er zu ihr kommen werde. Aber es verging
    eine Stunde, und er war noch nicht zu ihr gekommen. Sie ging in das Eßzimmer, unter dem Vorwande, dort etwas
    anordnen zu müssen, und sprach absichtlich laut, in der Erwartung, er werde dorthin kommen. Aber er kam nicht,
    obwohl sie hörte, daß er bis zur Tür seines Arbeitszimmers dem Subdirektor das Geleit gab. Sie wußte, daß er seiner
    Gewohnheit gemäß nun bald zum Dienste wegfahren werde, und hätte gern noch vorher mit ihm gesprochen, um ihre
    künftigen Beziehungen zu

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