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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Interesse und wußte alles, was in Rußland
    geschah. Er hielt den russischen Bauer für eine Art Übergangsstufe zwischen Affen und Menschen; aber dabei drückte
    er bei den landschaftlichen Wahlversammlungen mit besonderer Vorliebe gerade den Bauern die Hand und ließ sich von
    ihnen ihre Meinungen vortragen. Er glaubte nicht an Himmel und Hölle; aber er interessierte sich sehr für die
    Aufbesserung der äußeren Lage der Geistlichkeit und für eine Verkleinerung der Zahl der Kirchspiele, wobei ihm
    besonders am Herzen lag, daß nur auch ja die Kirche in seinem Dorfe verbliebe.
    In der Frauenfrage war er auf seiten der extremsten Verfechter der vollen Freiheit der Frauen und namentlich
    ihres Rechtes auf Arbeit; aber mit seiner Frau lebte er so, daß jedermann an ihrem einträchtigen, kinderlosen
    Familienleben seine Freude hatte, und er hatte das Leben seiner Frau so eingerichtet, daß sie nichts zu tun
    brauchte und auch nichts weiter tun konnte, als daß sie mit ihrem Manne gemeinsam überlegte, wie sie die Zeit am
    besten und vergnügtesten verbringen könnten.
    Hätte Ljewin nicht die Eigenheit an sich gehabt, die Charaktere der Menschen in möglichst günstiger Weise zu
    beurteilen, so würde ihm Swijaschskis Charakter keinerlei Schwierigkeit bereitet und keinerlei Zweifel erregt
    haben; er hätte sich gesagt: ›Er ist ein Dummkopf oder ein Lump‹, und alles wäre klar gewesen. Aber einen Dummkopf
    konnte er ihn nicht nennen; denn Swijaschski war zweifellos nicht nur ein sehr kluger, sondern auch ein sehr
    gebildeter Mann, der mit seiner Bildung in keiner Weise prahlte. Es gab kein Gebiet, auf dem er nicht Bescheid
    gewußt hätte; aber er zeigte sein Wissen nur, wenn er sich dazu genötigt sah. Und noch weniger konnte Ljewin sagen,
    daß er ein Lump sei; denn Swijaschski war zweifellos ein ehrenhafter, guter, braver Mensch, der heiter, frisch und
    unermüdlich eine von seiner gesamten Umgebung hoch bewertete Tätigkeit entfaltete und gewiß nie mit Bewußtsein
    etwas Schlechtes getan hatte und dessen auch nicht fähig war.
    Ljewin versuchte, sich über den Charakter seines Bekannten klarzuwerden, gelangte aber damit nicht zum Ziele und
    betrachtete ihn und sein Leben immer wie ein lebendiges Rätsel.
    Sie waren miteinander gut befreundet, und daher erlaubte sich Ljewin oft, ihm mit Fragen zuzusetzen, in dem
    Wunsche, bis zum tiefsten Grunde seiner Lebensanschauung durchzudringen; aber dies war ihm nie gelungen. Jedesmal,
    wenn Ljewin versucht hatte, in Swijaschskis Geist weiter als bis in die einem jeden geöffneten Empfangszimmer
    einzudringen, hatte er bemerkt, daß Swijaschski eine leise Verlegenheit zeigte; eine ganz schwache Andeutung von
    Angst prägte sich in seinem Blicke aus, als ob er fürchtete, von Ljewin durchschaut zu werden; er wehrte sich gegen
    solche Versuche dann in gutmütiger, humoristischer Weise.
    Jetzt nach der Enttäuschung, die ihm seine wirtschaftliche Tätigkeit gebracht hatte, freute sich Ljewin auf ein
    Zusammensein mit Swijaschski ganz besonders. Ganz abgesehen davon, daß der Anblick dieser glücklichen, mit sich und
    aller Welt zufriedenen Täubchen und ihres wohleingerichteten Nestes ihn immer in vergnügte Stimmung versetzte,
    verlangte es ihn jetzt, wo er sich mit seinem eigenen Leben so unzufrieden fühlte, in Swijaschskis Seele jene
    geheimnisvolle Eigenschaft zu ergründen, die diesem im Leben eine solche Klarheit, Bestimmtheit und Heiterkeit
    verlieh. Außerdem wußte Ljewin, daß er bei Swijaschskis einige Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft treffen werde,
    und es war ihm jetzt höchst interessant, jene wirtschaftlichen Gespräche über die Ernte, über das Mieten von
    Arbeitern und so weiter zu führen und mit anzuhören, die, wie Ljewin wußte, nach dem herkömmlichen Urteile als
    etwas sehr Niedriges galten, die ihm aber jetzt als etwas sehr Wichtiges erschienen. ›Mag sein, daß das zur Zeit
    der Leibeigenschaft nicht wichtig war oder in England heutzutage nicht wichtig ist. In beiden Fällen jedoch handelt
    es sich um feststehende Verhältnisse; aber bei uns jetzt, wo das alles eine Umwälzung durchgemacht hat und eben
    erst in der Neugestaltung begriffen ist, bei uns jetzt ist die Frage, wie sich die Verhältnisse gestalten werden,
    die einzig wichtige Frage in Rußland‹, dachte Ljewin.
    Es stellte sich heraus, daß die Jagd schlechter war, als Ljewin erwartet hatte. Der Sumpf war ausgetrocknet, und
    Schnepfen gab es so gut wie gar keine. Er streifte den

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