Anna Karenina
Hauptsache war, alle
fest davon überzeugt waren, daß die Wahl eines Gatten für sie ihre eigene Angelegenheit, nicht die der Eltern sei.
›Heutzutage geht es bei der Eheschließung nicht mehr so zu wie früher‹, dachten und sagten alle diese jungen
Mädchen und sogar alle älteren Leute. Aber wie man es heutzutage mit der Verheiratung der Töchter zu halten habe,
das konnte die Fürstin von niemandem in Erfahrung bringen. Die französische Sitte, bei der die Eltern über das
Schicksal der Kinder entscheiden, hatte in Rußland keinen Eingang gefunden und wurde so gut wie allgemein
verworfen. Die englische Sitte, den jungen Mädchen völlige Freiheit zu lassen, war gleichfalls nicht angenommen
worden und erschien in der russischen Gesellschaft als unmöglich. Und die russische Sitte der Heiratsvermittelung
galt als abgeschmackt, und alle machten sich darüber lustig, auch die Fürstin selbst. Wie nun aber die Töchter und
die Eltern sich in dieser wichtigen Sache zu verhalten hatten, das wußte kein Mensch zu sagen. Alle, mit denen die
Fürstin darüber ins Gespräch kam, sagten zu ihr nur: »Aber ich bitte Sie, in unserer Zeit ist es doch wahrhaftig
angezeigt, diesen veralteten Brauch aufzugeben. Die jungen Leute sollen ja die Ehe eingehen und nicht die Eltern;
also muß man auch die jungen Leute sich versorgen lassen, wie sie selbst wollen.« Aber die, die keine Töchter
hatten, konnten leicht so reden; die Fürstin dagegen mußte sich sagen, daß bei freier Möglichkeit der Annäherung
ihre Tochter sich auch in einen Mann verlieben könne, der gar nicht beabsichtigte, sie zu heiraten, oder auch in
einen solchen, der nicht zum Gatten für sie tauge. Und mochte man auch der Fürstin mit noch so starken Gründen zu
beweisen suchen, daß in unserer Zeit die jungen Leute sich ihr Schicksal selbst gestalten müßten, sie vermochte das
ebensowenig zu glauben, wie sie hätte glauben können, daß irgendwann in Zukunft für fünfjährige Kinder das beste
Spielzeug geladene Pistolen wären. Und daher beunruhigte sich die Fürstin um Kitty mehr, als sie es bei ihren
älteren Töchtern getan hatte.
Jetzt fürchtete sie, Wronski könnte sich darauf beschränken, ihrer Tochter lediglich die Kur zu machen. Sie sah,
daß Kitty sich bereits in ihn verliebt hatte; aber sie tröstete sich damit, daß er ein Ehrenmann sei und sich
deshalb ein solches Verhalten nicht werde zuschulden kommen lassen. Aber zugleich entging ihr nicht, wie leicht es
bei der heutigen Freiheit des Verkehrs sei, einem jungen Mädchen den Kopf zu verdrehen, und wie leichtfertig im
allgemeinen die Männer über eine solche Schuld denken. In der vergangenen Woche hatte Kitty ihrer Mutter ein
Gespräch erzählt, das sie mit Wronski bei einer Masurka gehabt hatte. Durch das Gehörte hatte sich die Fürstin
allerdings teilweise beruhigt gefühlt; aber ganz ruhig vermochte sie nicht zu sein. Wronski hatte zu Kitty gesagt,
er und sein Bruder seien beide so daran gewöhnt, sich in allen Stücken ihrer Mutter unterzuordnen, daß sie nie
etwas Wichtiges unternehmen würden, ohne vorher ihren Rat eingeholt zu haben. »Auch jetzt erwarte ich die Ankunft
meiner Mutter aus Petersburg wie ein besonderes Glück«, hatte er gesagt.
Kitty hatte das ihrer Mutter erzählt, ohne diesen Worten besondere Bedeutung beizumessen. Aber die Mutter faßte
es anders auf. Sie wußte, daß die Ankunft der alten Gräfin von Tag zu Tag erwartet wurde, und wußte, daß diese über
die von ihrem Sohne getroffene Wahl erfreut sein werde; sie wunderte sich freilich, daß er aus Furcht, seine Mutter
zu kränken, bisher noch keinen Antrag gemacht hatte; jedoch wünschte sie so sehnlich sowohl diese Ehe selbst wie
auch in allererster Linie endlich die Befreiung von all diesen Sorgen und Unruhen, daß sie an die in Wronskis
Worten anscheinend liegende Begründung seines Verhaltens glaubte. Wie schmerzlich es auch jetzt für die Fürstin
war, das Unglück ihrer ältesten Tochter Dolly mit ansehen zu müssen, die eine Trennung von ihrem Manne vorhatte, so
drängte doch die Aufregung über das demnächst sich entscheidende Schicksal der jüngsten Tochter alle anderen
Gefühle bei ihr zurück. Der heutige Tag hatte ihr durch Ljewins plötzliches Wiedererscheinen eine neue Beunruhigung
gebracht. Sie fürchtete, daß ihre Tochter, die früher, wie es ihr vorgekommen war, gegen Ljewin eine freundliche
Gesinnung gehegt hatte, aus übertriebener Ehrlichkeit Wronski
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