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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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der ihrigen suchte; aber dann bezwang sie sich offenbar mit Anstrengung und
    drückte ihm die Hand.
    »Ich bin Ihnen für Ihr Vertrauen sehr dankbar«, begann er. »Aber ...«, hier geriet er in Verwirrung und fühlte
    zu seinem Ärger, daß er eine Frage, die er still für sich mit größter Leichtigkeit und Klarheit hätte entscheiden
    können, in Gegenwart der Fürstin Twerskaja nicht zu erwägen imstande war. Denn diese Frau erschien ihm als eine
    Verkörperung jener gröberen Kraft, die nach der Anschauung der Welt seinem Leben die Richtung geben sollte und ihn
    hinderte, sich seinem Gefühle der Liebe und Verzeihung zu überlassen. Er hielt inne und blickte die Fürstin
    Twerskaja an.
    »Nun, leben Sie wohl, liebes Herz!« sagte Betsy und stand auf. Sie küßte Anna und ging hinaus. Alexei
    Alexandrowitsch gab ihr das Geleit.
    »Alexei Alexandrowitsch, ich kenne Sie als einen Mann von wahrhaft edler Gesinnung«, sagte Betsy, indem sie im
    kleinen Salon stehenblieb und ihm die Hand noch einmal besonders kräftig drückte. »Ich stehe Ihnen ja
    verhältnismäßig fern; aber ich liebe Anna so sehr und empfinde für Sie eine solche Hochachtung, daß ich mir
    erlauben möchte, einen Rat aus zusprechen. Empfangen Sie ihn! Alexei Wronski ist der Inbegriff der Ehrenhaftigkeit,
    und er ist im Begriff, nach Taschkent abzureisen.«
    »Ich danke Ihnen, Fürstin, für Ihre Teilnahme und für Ihren Rat. Aber die Frage, ob meine Frau jemanden
    empfangen kann oder nicht, muß sie selbst entscheiden.«
    Bei diesen Worten zog er, wie es seine Gewohnheit war, die Augenbrauen würdevoll in die Höhe, wurde sich aber im
    gleichen Augenblicke bewußt, daß, mochte er die Worte auch noch so kunstvoll wählen, von Würde in seiner Lage nicht
    die Rede sein konnte. Und daß Betsy dasselbe dachte, sah er an dem verhaltenen, boshaften, spöttischen Lächeln, mit
    dem sie ihn nach dieser Erwiderung anblickte.

20
    Im Saale verbeugte sich Alexei Alexandrowitsch vor Betsy und ging zu seiner Frau zurück. Sie hatte in der
    Zwischenzeit gelegen, nahm aber, als sie seine Schritte hörte, schnell wieder ihre frühere sitzende Stellung ein
    und blickte ihn erschrocken an. Er sah, daß sie geweint hatte.
    »Ich bin dir für dein Vertrauen zu mir sehr dankbar«, wiederholte er in sanftem Tone auf russisch den Satz, den
    er kurz vorher in Betsys Gegenwart auf französisch gesagt hatte, und setzte sich neben sie. Sobald er russisch zu
    ihr sprach und du zu ihr sagte, geriet Anna über dieses Du jedesmal in einen so gereizten Zustand, daß sie sich
    nicht beherrschen konnte. »Und ich bin dir sehr dankbar dafür, daß du die Frage in verneinendem Sinne entschieden
    hast. Ich bin gleichfalls der Ansicht, daß, wenn Graf Wronski abreist, es in keiner Weise erforderlich ist, daß er
    zu uns herkommt. Übrigens ...«
    »Das habe ich ja schon gesagt; also wozu wiederholst du es noch einmal?« unterbrach ihn Anna plötzlich mit einer
    Gereiztheit, die sie nicht zu unterdrücken imstande war. ›Nein‹, dachte sie, ›es ist in keiner Weise erforderlich,
    daß ein Mann der Frau Lebewohl zu sagen kommt, die er liebt, um derentwillen er sich das Leben nehmen wollte und
    sich unglücklich gemacht hat und die ohne ihn nicht leben kann. Nein, das ist in keiner Weise erforderlich!‹ Sie
    preßte die Lippen zusammen und richtete ihre funkelnden Augen auf seine Hände mit den hervortretenden Adern; er
    rieb langsam eine Hand gegen die andere. »Wir wollen nie wieder davon sprechen«, fügte sie etwas ruhiger hinzu.
    »Ich habe es dir überlassen, diese Frage zu entscheiden, und freue mich sehr, zu sehen ...«, begann Alexei
    Alexandrowitsch.
    »Daß mein Wunsch mit dem Ihrigen zusammentrifft«, beendete sie schnell seinen Satz; daß er so langsam sprach,
    während sie alles, was er sagen wollte, im voraus wußte, machte sie nervös.
    »Ja«, bestätigte er die Richtigkeit ihrer Ergänzung, »und die Fürstin Twerskaja mischt sich ganz
    unangebrachterweise in die schwierigsten Familienangelegenheiten. Gerade sie ...«
    »Ich glaube nichts von dem, was über sie geredet wird«, fiel ihm Anna schnell ins Wort. »Ich weiß, daß sie mich
    aufrichtig lieb hat.«
    Alexei Alexandrowitsch seufzte und schwieg. Sie spielte erregt mit den Quasten ihres Schlafrockes und blickte
    ihren Mann mit jenem qualvollen Gefühle physischen Widerwillens an, weswegen sie sich oft schalt, das sie aber
    nicht zu überwinden vermochte. Sie wünschte jetzt nur eins: von seiner

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