Anna Karenina
hat diese Tatsache als solche anerkannt und verziehen.« Er hielt nach jedem Satze inne, wie wenn er eine
Erwiderung erwartete; aber sie antwortete nichts. »So steht es also. Jetzt ist nun die Frage: Kannst du weiter mit
deinem Manne zusammen leben? Wünschst du das? Wünscht er es?«
»Ich weiß nichts; nichts weiß ich.«
»Aber du hast doch selbst gesagt, daß du ihn nicht ausstehen kannst.«
»Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich widerrufe es. Ich weiß nichts und begreife nichts.«
»Ja, aber erlaube mal ...«
»Das kannst du nicht verstehen. Ich fühle, daß ich kopfüber in einen Abgrund hinabstürze, aber mich nicht retten
darf. Und ich kann es auch nicht.«
»Nun, das ist nicht schlimm; wir halten ein Sprungtuch darunter und fangen dich darin auf. Ich verstehe dich;
ich verstehe, daß du es nicht über dich gewinnen kannst, das, was du wünschst und empfindest, auszusprechen.«
»Ich wünsche nichts; nichts wünsche ich ..., nur daß alles bald zu Ende sein möchte.«
»Aber er sieht das und weiß das. Und meinst du etwa, daß er sich weniger dadurch bedrückt fühlt als du? Du
marterst dich ab, und er martert sich ab; was kann dabei herauskommen? Und doch würde eine Scheidung
alle Schwierigkeiten lösen«, schloß Stepan Arkadjewitsch; diesen Hauptgedanken brachte er nur mit einer gewissen
Anstrengung heraus und blickte sie nun bedeutungsvoll an.
Sie antwortete nichts und schüttelte nur verneinend ihren kurzgeschorenen Kopf. Aber an dem Ausdruck ihres
Gesichtes, das auf einmal wieder in seiner früheren Schönheit erglänzte, sah er, daß sie dies nur deshalb nicht zu
wünschen gewagt hatte, weil es ihr als ein unerreichbares Glück erschienen war.
»Ihr tut mir furchtbar leid! Und wie glücklich würde ich sein, wenn es mir gelänge, diese Sache in Ordnung zu
bringen!« sagte Stepan Arkadjewitsch und lächelte nun schon wesentlich kühner. »Sprich nicht, sage kein Wort! Möge
mir Gott beistehen, damit ich alles so sagen kann, wie ich es empfinde. Ich will jetzt zu ihm gehen.«
Gedankenvoll und mit leuchtenden Augen blickte Anna ihn an; aber sie schwieg.
22
Stepan Arkadjewitsch trat in Alexei Alexandrowitschs Arbeitszimmer mit jener einigermaßen feierlichen Miene ein,
mit der er im Sitzungssaale seines Amtes auf dem Stuhle des Vorsitzenden Platz zu nehmen pflegte. Alexei
Alexandrowitsch ging, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, im Zimmer auf und ab und dachte über denselben
Gegenstand nach, über den Stepan Arkadjewitsch soeben mit Anna gesprochen hatte.
»Ich störe dich doch nicht?« fragte Stepan Arkadjewitsch, der beim Anblicke seines Schwagers ein ihm ungewohntes
Gefühl der Verlegenheit verspürte. Um diese Verlegenheit zu verbergen, zog er ein eben erst gekauftes
Zigarettenetui mit einem neuartigen Verschluß hervor, roch an dem Leder und nahm sich eine Zigarette heraus.
»Nein. Wünschst du etwas?« antwortete Alexei Alexandrowitsch wenig freundlich.
»Ja, ich möchte gern ... ich muß ... ja, ich muß ein paar Worte mit dir sprechen«, versetzte Stepan
Arkadjewitsch, der sich zu seiner Verwunderung einer ihm sonst fremden Zaghaftigkeit bewußt wurde.
Dieses Gefühl war für ihn etwas so Unerwartetes und Sonderbares, daß ihm nicht der Gedanke kam, dies könne wohl
die Stimme des Gewissens sein, die ihm sage, daß das, was er zu tun beabsichtige, schlecht sei. Stepan
Arkadjewitsch nahm sich kräftig zusammen und überwand diesen Anfall von Schüchternheit.
»Ich darf wohl hoffen, daß du von meiner Liebe zu meiner Schwester und von meiner aufrichtigen Zuneigung und
Verehrung dir gegenüber überzeugt bist«, sagte er errötend.
Alexei Alexandrowitsch blieb stehen und antwortete nicht; aber zu seiner Überraschung nahm Stepan Arkadjewitsch
wahr, daß das Gesicht seines Schwagers den Ausdruck eines ergebungsvollen Opfertieres trug.
»Ich hatte die Absicht ... ich wollte gern mit dir über meine Schwester und über eure beiderseitige Lage
sprechen«, fuhr Stepan Arkadjewitsch fort; er hatte immer noch mit jener ihm ungewohnten Befangenheit zu
kämpfen.
Alexei Alexandrowitsch lächelte trübe, blickte seinem Schwager forschend ins Gesicht, trat, ohne zu antworten,
an seinen Schreibtisch, nahm einen dort liegenden angefangenen Brief und reichte ihn dem Schwager hin.
»Ich denke an diesen selben Gegenstand unaufhörlich«, sagte er. »Und hier ist der Anfang eines Schreibens, das
ich für sie bestimmt hatte; denn ich glaube, daß ich es brieflich
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