Anna Karenina
widerwärtigen Gegenwart befreit zu sein.
»Ich habe soeben nach dem Arzte geschickt«, sagte Alexei Alexandrowitsch.
»Ich bin gesund; wozu brauche ich den Arzt?«
»Du nicht; aber die Kleine schreit fortwährend, und es wird vermutet, daß die Amme zu wenig Nahrung hat.«
»Warum hast du mir nicht erlaubt, die Kleine selbst zu nähren, als ich dich darum bat? Es ist ja ganz
gleichgültig« (Alexei Alexandrowitsch verstand, was dieses »ganz gleichgültig« bedeutete); »sie ist nur ein kleines
Kind, und da läßt man sie umkommen.« Sie klingelte und befahl, ihr das Kind zu bringen. »Als ich bat, das Kind
selbst nähren zu dürfen, wurde es mir nicht erlaubt, und jetzt bekomme ich die Vorwürfe.«
»Ich mache dir keine Vorwürfe ...«
»Doch, das tun Sie! Mein Gott, warum bin ich nicht gestorben!« Sie brach in Schluchzen aus. »Verzeih mir, ich
bin so reizbar, ich bin ungerecht«, fügte sie kurz darauf, zur Besinnung kommend, hinzu. »Aber bitte, geh jetzt
...«
›Nein, das kann nicht so bleiben‹, sagte Alexei Alexandrowitsch mit aller Bestimmtheit zu sich selbst, während
er hinausging.
Die Unzulässigkeit seiner Lage nach der Anschauung der Welt und der Haß seiner Frau gegen ihn und überhaupt die
Macht jener rohen, geheimnisvollen Gewalt, die im Gegensatze zu seiner Seelenstimmung sein Leben lenkte und die
Erfüllung ihres Willens und die Änderung seines Verhältnisses zu seiner Frau forderte, dies alles war ihm noch nie
mit solcher Deutlichkeit vor Augen getreten wie heute. Er sah klar, daß die ganze Welt und seine Frau etwas von ihm
verlangten; aber was sie eigentlich verlangten, das vermochte er nicht zu erfassen. Er fühlte, daß infolgedessen in
seiner Seele ein gewisser Ingrimm heranwuchs, der ihm seine Ruhe raubte und das ganze Verdienst seiner edlen Tat
zunichte machte. Er war der Ansicht, daß es für Anna das beste sei, die Beziehungen zu Wronski abzubrechen; aber
wenn die Leute alle fanden, daß dies unmöglich sei, nun, so war er auch bereit, diese Beziehungen von neuem zu
dulden, um nur nicht Schande über die Kinder kommen zu lassen, ihrer nicht beraubt zu werden und seine Lage nicht
ändern zu müssen. Wie übel dies auch war, so war es doch immer noch besser als ein Bruch, durch den Anna in eine
schmähliche, rettungslose Lage geraten und er selbst alles verlieren würde, was er liebte. Aber er fühlte sich
machtlos; er wußte im voraus, daß alle gegen ihn sein und ihn nicht das tun lassen würden, was ihm jetzt so
natürlich und gut erschien, sondern ihn zwingen würden, das zu tun, was zwar schlecht, aber nach ihrer Meinung
erforderlich war.
21
Betsy hatte den Saal noch nicht verlassen, als ihr in der Tür Stepan Arkadjewitsch begegnete; er kam soeben von
Jelisew, wo frische Austern eingetroffen waren.
»Ah! Sie, Fürstin! Das nenne ich eine angenehme Begegnung!« rief er. »Ich bin soeben bei Ihnen gewesen.«
»Die Begegnung kann aber nur einen Augenblick dauern; denn ich bin im Weggehen«, antwortete Betsy lächelnd und
zog sich den Handschuh an.
»Warten Sie noch, Fürstin, ziehen Sie sich den Handschuh noch nicht an; lassen Sie mich Ihnen vorher noch die
Hand küssen. Nichts hat bei dem Wiederaufkommen der alten Gebräuche so sehr meinen Beifall wie der Handkuß.« Er
küßte Betsy die Hand. »Wann sehen wir uns wieder?«
»Sie verdienen das gar nicht«, erwiderte Betsy lächelnd.
»Doch, doch! Ich verdiene es durchaus; denn ich bin der solideste Mensch von der Welt geworden. Ich bringe nicht
nur meine eigenen, sondern auch fremde Familienangelegenheiten in Ordnung«, versetzte er mit vielsagender
Miene.
»Ach, das freut mich sehr!« antwortete Betsy, die sofort begriff, daß er von Anna sprach. Sie kehrten in den
Saal zurück und traten dort in eine Ecke. »Er wird sie zu Tode martern«, sagte Betsy im Flüstertone, aber mit
starkem Nachdruck. »Das kann unmöglich so weitergehen, ganz unmöglich ...«
»Ich freue mich sehr, daß Sie dieser Ansicht sind«, erwiderte Stepan Arkadjewitsch und wiegte mit dem Ausdrucke
ernster, schmerzlicher Teilnahme den Kopf hin und her. »Ich bin deswegen nach Petersburg herübergekommen.«
»Die ganze Stadt spricht davon«, sagte sie. »Es ist ein ganz unmöglicher Zustand. Sie schwindet dabei
rettungslos dahin. Er begreift nicht, daß sie eine von den Frauen ist, die nicht imstande sind, mit ihren Gefühlen
zu scherzen. Eins von beiden muß geschehen: entweder muß der eine energisch vorgehen und
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