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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Schwäche geschämt hatte; und das
    Mitleid mit ihr und die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und ganz besonders die Seligkeit des
    Vergebens hatten bewirkt, daß er auf einmal nicht nur eine Linderung seiner Leiden verspürte, sondern auch eine
    seelische Ruhe empfand, wie er sie früher nie gekannt hatte. Er war auf einmal zu der Einsicht gelangt, daß gerade
    das, was die Quelle seiner Leiden gewesen, die Quelle seiner seelischen Freude geworden war. Die Frage, die ihm
    unlösbar erschienen war, als er richtete, verdammte und haßte, war nun, wo er verzieh und liebte, einfach und
    klargeworden.
    Er hatte seiner Frau verziehen und sie bemitleidet, gerührt durch ihr Leiden und durch ihre Reue. Er hatte auch
    Wronski vergeben und Mitleid mit ihm gehabt, besonders als Gerüchte über dessen verzweifelte Tat zu ihm gelangt
    waren. Auch seinen Sohn bedauerte er jetzt mehr als früher und machte sich Vorwürfe darüber, daß er sich ehemals zu
    wenig um ihn gekümmert hatte. Aber für das neugeborene kleine Mädchen hegte er ein ganz besonderes Gefühl nicht nur
    des Mitleides, sondern geradezu der Zärtlichkeit. Anfangs hatte er sich nur aus Mitleid um diese neugeborene
    schwächliche Kleine gekümmert, die nicht seine Tochter war und die, da sie während der Krankheit der Mutter nicht
    die gehörige Pflege hatte, wahrscheinlich gestorben wäre, wenn er nicht für sie gesorgt hätte – und er hatte selbst
    nicht gemerkt, wie lieb er das Kindchen gewann. Mehrmals täglich pflegte er in das Kinderzimmer zu gehen und sich
    dort längere Zeit aufzuhalten, so daß die Amme und die Kinderfrau, die zuerst eine Scheu vor ihm gehabt hatten,
    sich allmählich an ihn gewöhnten. Manchmal betrachtete er eine halbe Stunde lang das mit flaumigem Haarwuchs
    bedeckte Köpfchen und das gelbrote, faltige Gesichtchen des schlafenden Kindes und verfolgte die Bewegungen der
    sich runzelnden Stirn und der weichen, dicken Händchen mit den eingekrümmten Fingerchen, wie sie mit dem Handrücken
    die Äuglein und den Nasensattel rieben. Besonders in solchen Augenblicken fühlte Alexei Alexandrowitsch sich völlig
    ruhig und in seelischem Gleichgewichte und sah in seiner Lage nichts Ungewöhnliches und nichts, was einer Änderung
    bedurft hätte.
    Aber je mehr die Zeit vorrückte, um so klarer sah er ein, daß man ihn in dieser Lage nicht werde verharren
    lassen, mochte sie ihm persönlich jetzt auch noch so natürlich erscheinen. Er fühlte, daß außer der rein sittlichen
    Kraft, von der seine Seele sich leiten ließ, noch eine andere, gröbere, ebenso mächtige oder noch mächtigere Kraft
    obwaltete, die seinem Leben die Richtung gab, und daß diese Kraft ihm jene stille Ruhe, die ihm so lieb war, nicht
    lange belassen werde. Er fühlte, daß ihn alle Leute wie mit einer verwunderten Frage anblickten, ihn nicht
    verstanden und irgendwelchen Schritt von ihm erwarteten. Ganz besonders stark empfand er die Unnatürlichkeit und
    Unhaltbarkeit seines Verhältnisses zu seiner Frau.
    Als die weiche Stimmung vorüber war, welche die Nähe des Todes bei ihr hervorgerufen hatte, merkte Alexei
    Alexandrowitsch immer deutlicher, daß Anna sich vor ihm fürchtete, sich durch seine Gegenwart belästigt fühlte und
    ihm nicht gerade in die Augen sehen konnte. Es war, als ob sie ihm etwas sagen wollte und sich doch nicht dazu
    entschließen könnte und als ob auch sie in dem Vorgefühl, daß ihr Verhältnis so nicht fortdauern könne, irgendeinen
    Schritt von seiner Seite erwartete.
    Ende Februar erkrankte Annas neugeborenes Töchterchen, das gleichfalls den Namen Anna erhalten hatte. Alexei
    Alexandrowitsch war am Morgen im Kinderzimmer gewesen, hatte angeordnet, daß der Arzt gerufen werden sollte, und
    war dann nach dem Ministerium gefahren. Als er mit seinen Dienstgeschäften dort fertig war, kehrte er zwischen drei
    und vier Uhr nach Hause zurück. Im Vorzimmer erblickte er einen schöngewachsenen Lakaien in reich mit Tressen
    besetzter Livree, mit einem Umhang von Bärenfell; über dem Arme hielt er einen weißen Damenpelzmantel von
    amerikanischem Hundefell.
    »Wer ist hier?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
    »Die Fürstin Jelisaweta Fedorowna Twerskaja«, antwortete der Lakai, wie es Alexei Alexandrowitsch schien, mit
    einem leisen Lächeln.
    In dieser ganzen schweren Zeit hatte Alexei Alexandrowitsch die Beobachtung gemacht, daß seine Bekannten aus der
    vornehmen Gesellschaft, namentlich die Damen, ein außerordentlich lebhaftes

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