Anna Karenina
Schwäche geschämt hatte; und das
Mitleid mit ihr und die Reue darüber, daß er ihren Tod gewünscht hatte, und ganz besonders die Seligkeit des
Vergebens hatten bewirkt, daß er auf einmal nicht nur eine Linderung seiner Leiden verspürte, sondern auch eine
seelische Ruhe empfand, wie er sie früher nie gekannt hatte. Er war auf einmal zu der Einsicht gelangt, daß gerade
das, was die Quelle seiner Leiden gewesen, die Quelle seiner seelischen Freude geworden war. Die Frage, die ihm
unlösbar erschienen war, als er richtete, verdammte und haßte, war nun, wo er verzieh und liebte, einfach und
klargeworden.
Er hatte seiner Frau verziehen und sie bemitleidet, gerührt durch ihr Leiden und durch ihre Reue. Er hatte auch
Wronski vergeben und Mitleid mit ihm gehabt, besonders als Gerüchte über dessen verzweifelte Tat zu ihm gelangt
waren. Auch seinen Sohn bedauerte er jetzt mehr als früher und machte sich Vorwürfe darüber, daß er sich ehemals zu
wenig um ihn gekümmert hatte. Aber für das neugeborene kleine Mädchen hegte er ein ganz besonderes Gefühl nicht nur
des Mitleides, sondern geradezu der Zärtlichkeit. Anfangs hatte er sich nur aus Mitleid um diese neugeborene
schwächliche Kleine gekümmert, die nicht seine Tochter war und die, da sie während der Krankheit der Mutter nicht
die gehörige Pflege hatte, wahrscheinlich gestorben wäre, wenn er nicht für sie gesorgt hätte – und er hatte selbst
nicht gemerkt, wie lieb er das Kindchen gewann. Mehrmals täglich pflegte er in das Kinderzimmer zu gehen und sich
dort längere Zeit aufzuhalten, so daß die Amme und die Kinderfrau, die zuerst eine Scheu vor ihm gehabt hatten,
sich allmählich an ihn gewöhnten. Manchmal betrachtete er eine halbe Stunde lang das mit flaumigem Haarwuchs
bedeckte Köpfchen und das gelbrote, faltige Gesichtchen des schlafenden Kindes und verfolgte die Bewegungen der
sich runzelnden Stirn und der weichen, dicken Händchen mit den eingekrümmten Fingerchen, wie sie mit dem Handrücken
die Äuglein und den Nasensattel rieben. Besonders in solchen Augenblicken fühlte Alexei Alexandrowitsch sich völlig
ruhig und in seelischem Gleichgewichte und sah in seiner Lage nichts Ungewöhnliches und nichts, was einer Änderung
bedurft hätte.
Aber je mehr die Zeit vorrückte, um so klarer sah er ein, daß man ihn in dieser Lage nicht werde verharren
lassen, mochte sie ihm persönlich jetzt auch noch so natürlich erscheinen. Er fühlte, daß außer der rein sittlichen
Kraft, von der seine Seele sich leiten ließ, noch eine andere, gröbere, ebenso mächtige oder noch mächtigere Kraft
obwaltete, die seinem Leben die Richtung gab, und daß diese Kraft ihm jene stille Ruhe, die ihm so lieb war, nicht
lange belassen werde. Er fühlte, daß ihn alle Leute wie mit einer verwunderten Frage anblickten, ihn nicht
verstanden und irgendwelchen Schritt von ihm erwarteten. Ganz besonders stark empfand er die Unnatürlichkeit und
Unhaltbarkeit seines Verhältnisses zu seiner Frau.
Als die weiche Stimmung vorüber war, welche die Nähe des Todes bei ihr hervorgerufen hatte, merkte Alexei
Alexandrowitsch immer deutlicher, daß Anna sich vor ihm fürchtete, sich durch seine Gegenwart belästigt fühlte und
ihm nicht gerade in die Augen sehen konnte. Es war, als ob sie ihm etwas sagen wollte und sich doch nicht dazu
entschließen könnte und als ob auch sie in dem Vorgefühl, daß ihr Verhältnis so nicht fortdauern könne, irgendeinen
Schritt von seiner Seite erwartete.
Ende Februar erkrankte Annas neugeborenes Töchterchen, das gleichfalls den Namen Anna erhalten hatte. Alexei
Alexandrowitsch war am Morgen im Kinderzimmer gewesen, hatte angeordnet, daß der Arzt gerufen werden sollte, und
war dann nach dem Ministerium gefahren. Als er mit seinen Dienstgeschäften dort fertig war, kehrte er zwischen drei
und vier Uhr nach Hause zurück. Im Vorzimmer erblickte er einen schöngewachsenen Lakaien in reich mit Tressen
besetzter Livree, mit einem Umhang von Bärenfell; über dem Arme hielt er einen weißen Damenpelzmantel von
amerikanischem Hundefell.
»Wer ist hier?« fragte Alexei Alexandrowitsch.
»Die Fürstin Jelisaweta Fedorowna Twerskaja«, antwortete der Lakai, wie es Alexei Alexandrowitsch schien, mit
einem leisen Lächeln.
In dieser ganzen schweren Zeit hatte Alexei Alexandrowitsch die Beobachtung gemacht, daß seine Bekannten aus der
vornehmen Gesellschaft, namentlich die Damen, ein außerordentlich lebhaftes
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