Anna Karenina
Zimmer.
Im Eßzimmer klingelte er und befahl dem eintretenden Diener, es solle noch einmal zum Arzt geschickt werden. Er
war ärgerlich auf seine Frau, daß sie sich um dieses reizende Kindchen so wenig kümmerte, und so wollte er infolge
dieser Mißstimmung eigentlich nicht zu ihr gehen, hatte auch keine Lust, die Fürstin Betsy zu sehen. Aber seine
Frau hätte sich wundern können, weshalb er seiner Gewohnheit entgegen nicht zu ihr käme, und deshalb überwand er
sich und ging zum Schlafzimmer hin. Als er sich auf dem weichen Teppich der Tür näherte, hörte er unwillkürlich ein
Gespräch, das er nicht hatte hören wollen.
»Wenn er nicht wegführe, so würde ich sowohl Ihre Weigerung wie auch die Ihres Mannes, ihn zu empfangen,
begreifen können. So aber muß Ihr Mann darüber erhaben sein«, sagte Betsy.
»Nicht meines Mannes wegen, sondern um meiner selbst willen lehne ich es ab. Bitte, reden Sie nicht so!«
erwiderte Anna erregt.
»Aber Sie müssen doch wünschen, einem Manne Lebewohl zu sagen, der sich um Ihretwillen hat erschießen wollen
...«
»Eben deswegen mag ich es nicht.«
Alexei Alexandrowitsch blieb mit erschrockener, schuldbewußter Miene stehen und wollte unbemerkt wieder
zurückgehen. Aber dann besann er sich, daß das ein seiner nicht würdiges Verhalten sein würde; er kehrte wieder um
und näherte sich, nachdem er vorher gehustet hatte, dem Schlafzimmer. Die Stimmen verstummten, und er trat ein.
Anna saß in einem grauen Schlafrocke auf dem Liegestuhl; ihr schwarzes Haar, das nach der Krankheit stark
ausging, war kurz geschoren und bildete nun um ihren runden Kopf eine dichte Bürste. Wie stets beim Anblicke ihres
Mannes verschwand das lebendige Mienenspiel sofort aus ihrem Gesichte; sie ließ den Kopf sinken und blickte sich
unruhig nach Betsy um. Betsy saß neben ihr, in sehr gerader Haltung ihrer flachen, hohen Figur; sie war nach der
allerneuesten Mode gekleidet: der Hut schwebte über ihrem Kopfe wie eine Lampenglocke über der Lampe; das Kleid war
taubengrau mit hellfarbigen, schrägen Streifen, die an der Hüfte in dieser, am Rocke nach jener Richtung liefen.
Sie begrüßte Alexei Alexandrowitsch mit einer Neigung des Kopfes und einem spöttischen Lächeln.
»Ah!« machte sie, als ob sie sehr erstaunt wäre. »Ich freue mich sehr, daß Sie zu Hause sind. Sie lassen sich ja
nirgends blicken, und ich habe Sie seit Annas Krankheit nicht mehr gesehen. Ich habe alles gehört – wieviel Sorge
Sie gehabt haben. Ja, Sie sind ein bewunderungswürdiger Gatte!« sagte sie mit einer bedeutsamen, freundlichen
Miene, als verleihe sie ihm den Orden der Großherzigkeit für sein Verhalten seiner Frau gegenüber.
Alexei Alexandrowitsch verbeugte sich kühl, küßte seiner Frau die Hand und fragte nach ihrem Befinden.
»Ich meine, es geht etwas besser«, antwortete sie, seinem Blicke ausweichend.
»Aber mir kommt es so vor, als hätten Sie eine fieberhafte Färbung im Gesicht«, erwiderte er und legte einen
besonderen Nachdruck auf das Wort »fieberhaft«.
»Ich habe mit ihr zuviel geplaudert«, bemerkte Betsy. »Ich fühle, daß das meinerseits zu selbstsüchtig war, und
will nun auch aufbrechen.«
Sie stand auf; aber Anna ergriff, plötzlich errötend, schnell ihre Hand.
»Nein, bitte, bleiben Sie noch ein Weilchen! Ich muß Ihnen sagen ... nein, Ihnen«, wandte sie sich an Alexei
Alexandrowitsch, während eine dunkle Röte sich über ihren Hals und ihre Stirn ausbreitete. »Ich will und kann vor
Ihnen kein Geheimnis haben«, fügte sie hinzu.
Alexei Alexandrowitsch knackte mit den Fingern und senkte den Kopf.
»Betsy hat mir mitgeteilt, daß Graf Wronski zu uns zu kommen wünscht, um uns vor seiner Abreise nach Taschkent
Lebewohl zu sagen.« Sie sah ihren Mann nicht an und beeilte sich offenbar, alles herauszureden, wie schwer es ihr
auch werden mochte. »Ich habe ihr gesagt, daß ich ihn nicht empfangen kann.«
»Sie sagten, meine Liebe, das werde von Alexei Alexandrowitsch abhängen«, verbesserte Betsy sie.
»Nein, ich kann ihn nicht empfangen, und es hat ja auch keinen Zweck ...« Sie hielt plötzlich inne und richtete
einen fragenden Blick auf ihren Mann; aber dieser sah sie nicht an. »Mit einem Worte, ich will nicht ...«
Alexei Alexandrowitsch trat näher an sie heran und wollte ihre Hand ergreifen.
Ihre erste unwillkürliche Bewegung war, ihre Hand von seiner feuchten, mit großen, hervortretenden Adern
überzogenen Hand wegzuziehen, die nach
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