Anna Karenina
seine Frau ihn nicht werde auf die Jagd gehen lassen, hatte für ihn etwas
so Angenehmes, daß er bereit war, für immer auf das Vergnügen zu verzichten, einen Bären wieder zu Gesichte zu
bekommen.
»Aber schade ist es doch, daß diese beiden Bären ohne Ihre Mitwirkung erlegt werden sollen. Denken Sie wohl noch
an das letztemal in Chapilowo? Das war eine wundervolle Jagd«, sagte Tschirikow.
Ljewin wollte ihm nicht den Wahn benehmen, daß es irgendwo ohne Kitty etwas Schönes geben könne, und antwortete
deshalb nicht.
»Nicht ohne guten Grund hat sich doch dieser Brauch herausgebildet, vom Junggesellenleben förmlich Abschied zu
nehmen«, meinte Sergei Iwanowitsch. »Mag sich einer bei seiner Verheiratung auch noch so glücklich fühlen, es tut
ihm doch leid um seine Freiheit.«
»Gestehen Sie es nur ein: es ist Ihnen auch wohl so zumute wie dem Bräutigam bei Gogol, daß Sie am liebsten aus
dem Fenster springen möchten?« neckte Tschirikow.
»Natürlich ist ihm so zumute; aber zugeben wird er es nicht!« sagte Katawasow und lachte laut auf.
»Nun, wie denken Sie darüber? Das Fenster ist offen. Fahren wir sofort nach Twer. Da ist eine Bärin, zu deren
Lager wir ohne weiteres gehen können. Im Ernst, fahren wir mit dem Fünfuhrzug! Und die Leute hier in Moskau mögen
anfangen, was sie wollen!« schlug Tschirikow lächelnd vor.
»Aber ich kann auf meine Ehre versichern«, erwiderte Ljewin lächelnd, »ein solches Gefühl des Bedauerns über den
Verlust meiner Freiheit vermag ich in meiner Seele nicht zu finden!«
»Ja, in Ihrer Seele ist jetzt ein solcher Wirrwarr, daß Sie überhaupt nichts darin finden können«, entgegnete
Katawasow. »Aber warten Sie nur ein Weilchen; wenn Sie da erst ein bißchen Ordnung hergestellt haben, dann werden
Sie es schon finden!«
»Nein, wenn in meiner Seele ein Bedauern über den Verlust der Freiheit überhaupt vorhanden wäre, so würde ich es
neben meinem Gefühle« (er mochte dem Spötter gegenüber nicht das Wort Liebe gebrauchen) »und neben meiner
Glückseligkeit doch wenigstens ein klein bißchen empfinden. Aber ganz im Gegenteil, ich freue mich über diesen
Verlust meiner Freiheit.«
»Schlimm, schlimm! Ein unheilbarer Kranker!« sagte Katawasow. »Na, wir wollen auf seine Genesung trinken oder
ihm wünschen, daß auch nur der hundertste Teil seiner Zukunftsträume zur Wirklichkeit werden möge. Schon das wird
ein Glück sein, wie es auf der Welt noch nie dagewesen ist.«
Bald nach dem Essen fuhren die Gäste weg, um sich noch zur Hochzeit umzukleiden.
Als Ljewin allein geblieben war und nochmals an die Gespräche dieser Junggesellen zurückdachte, legte er sich
noch einmal die Frage vor, ob in seiner Seele dieses Gefühl des Bedauerns über den Verlust seiner Freiheit
vorhanden sei, von dem sie gesprochen hatten. Er lächelte bei dieser Frage. ›Freiheit? Wozu habe ich Freiheit
nötig? Das Glück besteht nur darin, daß ich liebe, daß ich wünsche, was sie wünscht, denke, was sie denkt; von
Freiheit ist dabei nicht die Rede. Das, ja das ist das Glück!‹
›Aber kenne ich denn auch ihre Gedanken, ihre Wünsche, ihre Gefühle?‹ flüsterte ihm auf einmal eine Stimme in
seinem Innern zu. Das Lächeln verschwand von seinem Gesicht, und er versank in Nachdenken. Und plötzlich überkam
ihn ein sonderbares Gefühl. Angst und Zweifel ergriffen ihn – Zweifel an allem.
›Aber wenn sie mich nun nicht liebt? Wenn sie mich nur heiratet, um einen Mann zu bekommen? Wenn sie selbst
nicht weiß, was sie tut?‹ fragte er sich. ›Vielleicht kommt sie erst, wenn sie mich geheiratet hat, zur Besinnung
und sieht dann ein, daß sie mich nicht liebt und mich nicht hat lieben können.‹ Und nun kamen ihm sonderbare, ganz
arge Gedanken über Kitty in den Kopf. Er war auf Wronski eifersüchtig wie vor einem Jahre, als ob jener Abend, an
dem er sie mit Wronski zusammen gesehen hatte, erst gestern gewesen wäre. Er argwöhnte, daß sie ihm nicht alles
gesagt habe.
Schnell sprang er auf. ›Nein, da muß etwas geschehen!‹ sagte er in Verzweiflung zu sich selbst. ›Ich will zu ihr
gehen‹, sie fragen und zum letzten Male zu ihr sagen: ›Noch sind wir frei; ist es nicht das beste, noch jetzt
haltzumachen? Alles ist besser als lebenslängliches Unglück, Schande und Untreue!‹ Mit Verzweiflung im Herzen und
mit einer wahren Wut auf alle Menschen und auf sich selbst und auf Kitty verließ er sein Hotel und fuhr zu ihr.
Er fand sie in den
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