Anna Karenina
die
Fensterscheiben zitterten. Man hörte, wie auf der Chorestrade die gelangweilten Sänger bald ihre Stimme probierten,
bald sich schneuzten. Der Geistliche schickte unaufhörlich bald den Küster, bald den Diakon hinaus, um nachzusehen,
ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei, und trat selbst in seinem lila Meßgewand mit dem gestickten Gürtel immer
häufiger in Erwartung des Bräutigams an die Seitenpforte. Endlich sagte eine der Damen nach einem Blick auf die
Uhr: »Das ist aber wirklich seltsam!« und alle Gäste gerieten in Unruhe und begannen ihrer Verwunderung und ihrer
Unzufriedenheit lauten Ausdruck zu geben. Einer der Brautführer fuhr hin, um nachzuforschen, was denn vorgefallen
sei. Unterdessen stand Kitty, schon längst völlig fertig, in weißem Kleide, langem Schleier und einem Kranze aus
Orangenblüten, mit ihrer Schwester, Frau Lwowa, die als Brautmutter walten sollte, in dem Saale des
Schtscherbazkischen Hauses, blickte durchs Fenster und wartete schon seit mehr als einer halben Stunde vergeblich
darauf, daß ihr Brautführer ihr die Nach richt von der Ankunft des Bräutigams in der Kirche bringe.
Inzwischen ging Ljewin in Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack, in seinem Hotelzimmer auf und ab, steckte
alle Augenblicke den Kopf aus der Tür und blickte den Flur entlang. Aber von dem, den er erwartete, war auf dem
Vorsaal nichts zu sehen, und verzweifelt mit den Armen in der Luft umherfahrend, wandte sich Ljewin zu Stepan
Arkadjewitsch, der mit Seelenruhe rauchte.
»Ob sich wohl jemals ein Mensch in einer so entsetzlichen, albernen Lage befunden hat!« sagte er.
»Ja, es ist eine dumme Geschichte!« stimmte ihm Stepan Arkadjewitsch bei und lächelte ihn besänftigend an. »Aber
beruhige dich; er wird es ja den Augenblick bringen.«
»Jawohl, er wird!« versetzte Ljewin, seine Wut kaum zurückhaltend. »Und diese albernen ausgeschnittenen Westen!
Es ist unmöglich!« sagte er, indem er das zerknitterte Vorderteil seines Hemdes betrachtete. »Und wenn nun das
Gepäck schon nach der Bahn gebracht ist, was dann?« rief er in heller Verzweiflung.
»Dann ziehst du das von mir an.«
»Das hätte ich schon längst tun sollen.«
»Habe dich doch nicht so komisch! ... Warte nur, es zieht sich alles zurecht.«
Die Sache war nämlich folgende: Als Ljewin sich zur Trauung anziehen wollte, hatte ihm sein alter Diener Kusma
Frack, Weste, und was sonst nötig war, hereingebracht.
»Aber wo hast du das Hemd?« hatte Ljewin gerufen.
»Das Hemd haben Sie ja an«, hatte Kusma mit ruhigem Lächeln erwidert.
Ein reines Hemd zurückzulassen, daran hatte Kusma gar nicht gedacht, und als ihm befohlen worden war, alles
einzupacken und zu Schtscherbazkis zu schaffen, von wo das junge Paar am Abend dieses Tages abreisen sollte, da
hatte er es auch so gemacht und alles mit Ausnahme des Frackanzuges eingepackt.
Aber das Hemd, das Ljewin am Morgen angezogen hatte, war schon zerknittert, und Ljewin konnte es zu der modisch
ausgeschnittenen Weste unmöglich tragen. Zu Schtscherbazkis zu schicken, war ihm zu weit erschienen. Er hatte nach
einem Geschäft geschickt, um ein Hemd kaufen zu lassen. Der Kellner war unverrichteter Sache zurückgekommen: es sei
alles geschlossen, wegen des Sonntags. Dann war in Stepan Arkadjewitschs Wohnung geschickt worden; ein Hemd war
gebracht worden; aber es war viel zu weit und zu kurz. Schließlich hatte er doch zu Schtscherbazkis geschickt, um
die Sachen wieder auspacken zu lassen. In der Kirche wartete man auf den Bräutigam; aber der lief, wie ein in einen
Käfig eingesperrtes wildes Tier, im Zimmer hin und her, blickte alle Augenblicke auf den Flur hinaus und fragte
sich in Erinnerung an die Torheiten, die er heute zu Kitty gesagt hatte, voll Entsetzen und Verzweiflung, was sie
jetzt wohl von ihm denken möge.
Endlich stürzte Kusma, der dies alles verschuldet hatte, keuchend und atemlos mit dem Hemd ins Zimmer.
»Ich habe es gerade noch abgefaßt. Der Spediteur war schon dabei, die Sachen aufzuladen«, berichtete Kusma.
Drei Minuten darauf lief Ljewin, ohne nach der Uhr zu sehen, um seine Herzenswunde nicht noch mehr aufzureißen,
den Vorsaal entlang.
»Damit kannst du nichts mehr gutmachen«, sagte lächelnd Stepan Arkadjewitsch, der ihm rasch, aber ohne
übermäßige Hast folgte. »Es zieht sich alles zurecht, sage ich dir; es zieht sich alles zurecht.«
4
»Da sind sie! ... Das ist er! ... Welcher? ... Der jüngere doch wohl, nicht? ... Und
Weitere Kostenlose Bücher