Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
hinteren Zimmern. Sie saß auf einem Koffer und gab dem Stubenmädchen irgendwelche
    Anweisungen; beide waren damit beschäftigt, Haufen verschiedenfarbiger Kleider zu durchsuchen, die auf den
    Stuhllehnen und auf dem Fußboden ausgebreitet lagen.
    »Ah!« rief sie, als sie ihn erblickte; ihr ganzes Gesicht erstrahlte vor Freude. »Was bringst du, was bringen
    Sie?« (Noch bis zu diesen letzten Tagen nannte sie ihn bald du, bald Sie.) »Ein unerwarteter Besuch! Ich bin dabei,
    meine Mädchenkleider durchzusehen, wem ich jedes schenken soll ...«
    »Soso! Das ist ja sehr hübsch!« sagte er und blickte finster nach dem Stubenmädchen.
    »Geh hinaus, Dunjascha, ich werde dich nachher rufen«, sagte Kitty. »Was hast du?« fragte sie, sobald das
    Mädchen hinausgegangen war; sie redete ihn nun entschlossen mit du an. Sie hatte seine sonderbare, aufgeregte,
    finstere Miene bemerkt und einen Schreck darüber bekommen.
    »Kitty, ich leide Qual. Ich kann das nicht allein ertragen«, sagte er in einem Ton, dem man die Verzweiflung
    anhörte; er war vor ihr stehengeblieben und blickte ihr flehend in die Augen. Er sah schon an dem liebevollen,
    offenen Ausdruck ihres Gesichtes, daß das, was er ihr von einem Auseinandergehen zu sagen beabsichtigte, keine
    Folge haben werde; aber es war ihm doch ein Bedürfnis, daß sie selbst ihm seinen Irrtum nehme. »Ich bin gekommen,
    um dir zu sagen, daß es noch Zeit ist. Es ist noch möglich, alles rückgängig zu machen und wieder in Ordnung zu
    bringen.«
    »Was sagst du da? Ich verstehe dich nicht. Was hast du nur?«
    »Mich quält das, was ich schon tausendmal gesagt habe und wovon ich nicht loskommen kann: daß ich deiner nicht
    würdig bin. Es kann nicht dein wahrer Wille gewesen sein, mich zu heiraten. Überlege es noch einmal. Du hast dich
    geirrt. Überlege es dir recht genau. Du kannst mich nicht lieben ... Wenn es so ist, dann sage es lieber.« Er sah
    sie bei diesen Worten nicht an. »Ich werde unglücklich sein. Mögen alle Menschen reden, was sie wollen; das ist
    immer noch besser als ein lebenslängliches Unglück ... Besser jetzt, solange es noch Zeit ist ...«
    »Ich verstehe dich nicht«, antwortete sie erschrocken. »Heißt das, daß du zurücktreten willst? Daß es nichts
    werden soll?«
    »Ja, wenn du mich nicht liebst.«
    »Du hast den Verstand verloren!« rief sie und wurde rot vor Ärger. Aber sein Gesicht sah so kläglich aus, daß
    sie ihren Ärger unterdrückte; sie warf die Kleider von einem Stuhle herunter und setzte sich näher zu ihm heran.
    »Also, was hast du gedacht? Sage mir alles.«
    »Ich glaube, daß du mich nicht lieben kannst. Womit könnte ich es denn verdienen, daß du mich liebtest?«
    »Mein Gott, was soll ich nur tun?« sagte sie, in Tränen ausbrechend.
    »Ach, was habe ich angerichtet!« rief er, fiel vor ihr auf die Knie und bedeckte ihre Hände mit Küssen.
    Als die Fürstin fünf Minuten darauf ins Zimmer trat, fand sie das junge Paar schon vollständig versöhnt. Kitty
    hatte ihn nicht nur zu der Überzeugung gebracht, daß sie ihn liebe, sondern sogar in Beantwortung der Frage,
    weswegen sie ihn liebe, ihm die Gründe ihrer Liebe dargelegt. Sie hatte ihm gesagt, sie liebe ihn, weil sie ihn
    ganz verstehe und weil sie wisse, was er lieben müsse, und weil alles, was er liebe, gut sei. Und diese Begründung
    war ihm vollständig klar erschienen. Als die Fürstin zu ihnen hereinkam, saßen sie nebeneinander auf dem Koffer,
    durchsuchten die Kleider und stritten sich, weil Kitty das braune Kleid, das sie getragen hatte, als Ljewin ihr
    seinen Antrag machte, an Dunjascha verschenken wollte, Ljewin aber darauf bestand, dieses Kleid dürfe überhaupt an
    niemand weggegeben werden, und sie solle Dunjascha das blaue schenken.
    »Aber daß du das nicht begreifen kannst! Sie ist ja brünett, und das wird ihr nicht stehen ... Ich habe mir das
    alles überlegt.«
    Als die Fürstin hörte, warum er eigentlich gekommen war, wurde sie halb im Scherz, halb im Ernst böse und
    schickte ihn nach Hause, damit er sich umkleide und Kitty nicht beim Frisieren störe, da Herr Charles jeden
    Augenblick kommen müsse.
    »Sie hat sowieso schon alle diese Tage über nichts gegessen und ein schlechtes Aussehen bekommen, und nun machst
    du ihr noch Unruhe mit deinen Torheiten«, sagte sie zu ihm. »Mach, daß du wegkommst, mach, daß du wegkommst, lieber
    Freund!«
    Schuldbewußt und beschämt, aber beruhigt kehrte Ljewin in sein Hotel zurück. Sein Bruder, Darja

Weitere Kostenlose Bücher